Symphonie einer Unerschütterlichen

Gefühl wird zu Bewegung: Im Film „Dancer in the Dark“ setzt der Regisseur Lars von Trier alle Schwerkraft außer Kraft und seinen Illusionswillen absolut. Mit der tragischen Geschichte um die erblindende Immigrantin Selma unterläuft er zugleich das naive Musical-Format – hin zum politischen Kommentar

von KATJA NICODEMUS

In „Dancer in the Dark“ gibt es eine zärtliche Geste, mit der eine Grundbewegung dieses Films auf wunderbar einfache Weise vorgeführt wird. Zwei Frauen schauen sich in einem amerikanischen Provinzkino ein Musical an. Auf der Leinwand formieren sich weiß gekleidete Revuegirls im Gleichschritt zu beeindruckenden Blütenarrangements. Die jüngere der beiden Zuschauerinnen ist hinter ihrer monströsen Brille halbblind, und so imitiert die ältere Freundin für sie die Tanzschritte vorsichtig mit zwei Fingern auf der Handfläche. Ein Bild der Vertrautheit und Freundschaft, in dem zugleich das ganze Geheimnis des Musicals als Genre ohne Schwerkraft liegt – Gefühl wird zu Bewegung.

Dass die beiden, je auf ihre Art entrückten Ikonen Björk und Catherine Deneuve in „Dancer in the Dark“ zwei schwer schuftende Fabrikarbeiterinnen im Amerika der 60er-Jahre spielen, sagt eigentlich schon alles über die unglaubliche Chuzpe, mit der Lars von Trier in seinem neuen Film alle Schwerkraft außer Kraft und seinen ganz eigenen Illusionswillen absolut setzt. In Jean-Loup Huberts „La reine blanche“ nahm man der Deneuve vor ein paar Jahren nicht mal das Kartoffelschälen in der Kleinbürgerküche ab, während sie jetzt mit Kopftuch und Arbeiterinnenmontur ganz selbstverständlich Stahlplatten stanzt. Genauso selbstverständlich und als hätte es nie eine isländische Pop-Prinzessin gegeben, schlurft Björk als tschechoslowakische Einwanderin Selma abends abgearbeitet durch ihre winzige Wohnwagenküche.

Unglaublich und zugleich selbstverständlich ist eigentlich alles an diesem Film: der Gegensatz zwischen glamourösem Casting und realistischer Arbeitswelt, die Verbindung von versponnenen Musicalszenen und politischem Kommentar, überhaupt die Idee, sich mit dem Musical eines Genres zu bedienen, „in dem nie etwas Schreckliches geschieht“ (Björk alias Selma), um eben doch Schreckliches zu erzählen.

Der Wille zur Illusion ist auch inhaltliches Leitmotiv von „Dancer in the Dark“, einem Film, in dem alle ständig damit beschäftigt sind, sich selbst oder den anderen etwas vorzuführen. Björks Figur hat sogar ein ganzes System erfunden, um ihre katastrophale Sehschwäche vor der Umgebung zu verbergen. Ob sie den Augenarzt mit auswendig gelernten Buchstaben austrickst, bei der Arbeit die Maschinen mit der Hand ertastet, Eisenbahnschienen als Wegweiser benutzt, ihre Gefühle hinter unerschütterlicher Freundlichkeit verbirgt oder sich als Tochter eines Musicalstars erfindet, der sie in ihrer Fantasie auf dem Tanzparkett auffangen wird, mit ihrer Welt der falschen Zeichen und ständigen Täuschungen ist Selma so verschmolzen, dass sie schließlich selbst bis zum letzten Atemzug daran zu glauben scheint.

Trauma und Tagtraum

Als Illusionismus entpuppt sich auch von Triers Umgang mit dem Musical als einer eigentlich harmoniebedürftigen Kinoform. Dass er Catherine Deneuve als Selmas mütterliche Freundin Kathy besetzt hat, ist da kein Zufall. In Jacques Demys „Die Regenschirme von Cherbourg“ war die Deneuve 1963 schon einmal in einem Musical zu sehen, das sich aus der getanzten Idylle herauswagte, um eine Liebesgeschichte zu erzählen, die am Algerienkrieg zerbricht. Bei von Trier ist die Französin sozusagen wandelndes Zitat der Subversion des Genres.

In „Dancer in the Dark“ respektiert der Däne zwar das Grundgesetz des Musicals – Emotion wird zu Bewegung –, doch es sind ausschließlich traumatische Gefühle, die sich hier in Gang setzen und zu tagträumerischen Übersprunghandlungen werden, zur Fortsetzung der Verdrängung mit anderen Mitteln. Da wird aus den Akkordrhythmen und Fabrikgeräuschen der Takt des Tanzes, aus dem Schrecken eines Mordes die gespenstische Vergebungsfantasie und aus dem Gang zur Hinrichtung die Parade der befreiten Seelen. Oder aus einer unbequemen Wahrheit das kitschige Grün einer zutiefst amerikanischen Idylle: Einmal ganz direkt auf ihre fast völlige Blindheit angesprochen, singt sich Selma in eine mythische Waldlandschaft hinein, die mit ihren Hobbyanglern und Western-Zügen wie ein Reklamebild des Landes wirkt, an dem sie letztlich vorbeilebt. Was von Trier da treibt, ist eigentlich schon keine Subversion mehr, eher die Um- und Fortschreibung des Genres. Statt Geometrie und Glamour gibt es in von Triers Musicaleinlagen schiefe Winkel, fragmentierende Einstellungen aus unzähligen Kamerapositionen, Ensembleszenen, bei denen niemand so recht im Mittelpunkt steht und kaum jemand synchron tanzt. Dazu Björks fremdartige, manchmal wie gebrochen wirkende Stimme und eine Musik, die Alltagsgeräusche wie das Klappern eines Zuges oder das Stampfen einer Maschine benutzt, um in fremdartige symphonische Welten wegzudriften.

Schon aus dem Anfang seines Films macht von Trier ein Spiel mit den Erwartungen. Vor dem geschlossenen Vorhang erklingt eine majestätische Ouvertüre, nach der man eigentlich auf glamouröse Bilder gefasst ist. Aber „Dancer in the Dark“ beginnt mit verwackelten, unscharfen Probenaufnahmen. Catherine Deneuve stellt ungelenk einen Teller Spagetti auf Björks Kopf, wird vom Regisseur angepfifften, setzt sich dann beleidigt in eine Ecke und bellt. Es braucht ein bisschen, bis man begriffen hat, dass es nicht der Film selbst ist, was hier geprobt wird, sondern „The Sound of Music“, ein Musical im Musical. Die krude, durch das Cinemascope noch befremdlicher wirkende Ästhetik bleibt allerdings auch nach der (Vor-) Probe.

Das Irritierendste an „Dancer in the Dark“ ist wahrscheinlich die Wechselwirkung zwischen Björks fast schon dokumentarischer physischer Wirklichkeit, die jedes einzelne Bild des Films erfüllt, und der rohen, auf ständige Fragmentierung und Desillusionierung ausgerichteten Form. Einerseits nehmen die digitalen Bilder mit ihrer Bleichheit, den ruckartigen Schwenks und Jumpcuts das Pathos des Melodrams auseinander, das hier eben auch erzählt wird. Andererseits entsteht gerade so eine manchmal kaum zu ertragende körperliche Nähe, bei der die Kamera gemeinsam mit dem Zuschauer geradezu unter die Haut der Heldin geht. Von Selma, die in diesem Film ihren selbst gewählten Weg in den Untergang geht, kennen wir am Ende jede Wimper, jede Falte, jedes Haar, jedes Pickelchen und jede Geste.

Bei sich im Schmerz

In dieser Mischung aus Selbstbestimmtheit und körperlicher Präsenz unterscheidet sich Selma von den Frauengestalten in den vorhergehenden Filmen des Regisseurs. In „Breaking the Waves“ war Emily Watsons religiös überhöhtes Schmerzensmädchen ein letztlich fremdbestimmtes Opfer. In „Idioten“ lernt die aus der Bahn geworfene Karin (Ellen Bilgerson) den Tod ihres Kindes mit einer kollektiven Grenzerfahrung überwinden, die sich letztlich gegen die Zwänge ihrer spießigen Familie richtet – Selbstfindung über den Umweg der Selbstaufgabe.

Björks Selma dagegen ist von Anfang ganz bei sich. Ein in sich ruhendes, koboldhaftes Wesen, das einen Plan durchzieht – bis zur letzten Konsequenz. In „Dancer in the Dark“ geht es nämlich nicht ums Opfern, sondern um das Begleichen einer Schuld. Selma hatte sich dazu entschlossen, Mutter zu werden, obwohl sie wusste, dass sie eine Sehbehinderung vererben würde, die zur Blindheit führt. Daher gilt es, unbedingt das Geld für die Augenoperation des Sohns zu verdienen – und mit allen Mitteln, selbst einem Verbrechen, zu verteidigen.

Sogar als Selma als Tschechin in die Hände des kommunistenfeindlichen amerikanischen Rechtssystems der 60er-Jahre gerät, macht sie der Film nicht zum Opfer. Er teilt sich auf: Einerseits ist da die fast dokumentarische Beobachtung eines Gefängnisses, das mit einigen kargen Einstellungen nüchtern gezeichnet wird. Die kahle Kloschüssel, das Feldbett, Gitterstäbe, Flure, Schlösser. Andererseits gibt die Kamera ihre Nähe zu Selma nicht auf. Als Mensch in einem übermächtigen repressiven Apparat gelingt es Selma selbst noch in der Todeszelle, sich ihrer selbst durch die Musik zu versichern. In dem halb traurigen, halb trotzigen Lied, das aus der Angst vor der drohenden Hinrichtung entsteht, geht es um Katzenschnurrhaare, Schnitzel mit Nudeln und ähnlich Dinge, für die zu leben sich lohnt.

Obwohl man es bis zum Schluss einfach nicht wahrhaben will, muss in einem melodramatischen Musical wie „Dancer in the Dark“ unweigerlich der Moment kommen, in dem auch die Musik keinen Ausweg mehr weiß. Es ist ein A-cappella-Stück, das in diesem Film das letzte Wort hat:They say, it's the last songthey don't know us you see,it's only the last song, if we let it be.

Zwei Stunden lang hat man Selmas Leben geteilt und ist ihr näher gekommen als jeder anderen Figur im Kino der letzten Jahre. It's only the last song, if we let it be – oder vom eigentlich realitätsfernsten Genre des Kinos zu einem erschütternden Plädoyer gegen das amerikanische Justizsystem, mit dem der Film weit über Selmas Schicksal hinausweist. Zumutung hat wahrscheinlich mit Mut zu tun. Und den Mut für die letzte Szene von „Dancer in the Dark“ hat derzeit wahrscheinlich nur ein einziger Regisseur auf der Welt.

„Dancer in the Dark“. Regie: Lars von Trier. Mit: Björk, Catherine Deneuve, David Morse, Peter Stormare, Jean-Marc Barr, Cara Seymour, Joel Grey, Udo Kier u. a. Deutschland/Frankreich/Dänemark 2000, 140 Min.