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Lautstarkes Gefühlsdesaster

■ „Rosas“ und „tg Stan“: Melange aus Sprache und Bewegung

Es dauert so seine Zeit, bis sich die Tänzer der Compagnie Rosas, die Schauspieler des Theaterkollektivs tg Stan und die Musiker des Jazzensembles Aka Moon auf der Bühne zusammen gerauft haben. Drei Stunden werden es insgesamt sein, wie die Digitaluhren im Rückwärtslauf ankündigen. Doch das anfängliche Chaos ist Programm. Erst einmal wird dem Publikum leise der Boden entzogen, dann lautstark Gefühlsdesaster um die Ohren geschrien. Eigentlich weiß niemand, worum es hier geht. Aber da ist man schon mitten drin, im wahrsten Sinne In Real Time, dem Encounter dreier Weltklassegruppen aus Brüssel, mit dem Kampnagel die letzte Spielzeit unter Res Bosshart eröffnete.

„Hat es angefangen?“, „Hat überhaupt jemals etwas angefangen?“ „Oder ist es bereits das Ende?“ – Fragen und Sticheleien zweier Liebender, die der holländische Autor Gerardjan Rijnders in einem absurden Dialog intelligent in der Balance hält. Taka Shamoto als „She“ und Frank Vercruyssen als „He“ sind zwei Pole, an denen das turbulente Geschehen zur Ruhe findet.

Die Musiker greifen in die Instrumente, brechen sogleich wieder ab. Setzen noch einmal an, bis sich die Jazzimprovisationen zu einer Woge aufbäumen. Die Tänzer schlagen spiralförmige Schneisen in den Raum, schmeißen sich mit Wucht und Wonne auf den Boden, als wollten sie bleibende Abdrücke hinterlassen. Die Choreografie von Rosas-Chefin Anne Teresa De Keersmaeker, die selbst mittanzt, wirkt gelöst, lässt jedoch die genau kalkulierte Struktur durchscheinen.

Wundervoll sind die Begegnungen zwischen Tänzern und Schauspielern, wenn Sprache auf Bewegung trifft. Vor allem Jolente De Keersmaeker beweist Spielwitz und Improvisationstalent. Tänzer und Schauspieler, wagen viel – und gewinnen. Und wenn Sara de Roos Wortsalven sich mit Aka Moons Klanggewitter mischen, bekommt man eine Gänsehaut. Zeit wird sichtbar. Momente des Verharrens, der Ungewissheit schleichen sich in die Soli, Duette, Trios, bis die Bewegung weiterläuft, alle zusammenfinden und sich gleich wieder verstreuen. Den Augenblick, in dem alle das gleiche tun, sehnt eine Tänzerin herbei. Vielleicht ein beidseitiges „Ich liebe Dich“? „Das wäre die Endlösung“, sagt „He“. Da spielen wir doch lieber weiter.

Irmela Kästner

Weitere Vorstellungen: heute und morgen, Kampnagel, 20 Uhr

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