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Die Hymnisierung der Welt

Mit Diskokugeln auf Du und Du: Ohrwurmzüchter und Ex-Verve-Oberhaupt Richard Ashcroft spielte in Berlin

Bevor es richtig losging, hatte Richard Ashcroft seine 1993 gegründete Band „The Verve“ schon einmal aufgelöst. Dann kam die Reunion, der Wiederanschluss und es wurde 1997. „Urban Hymns“ hieß das Album. Es enthielt genug Ohrwürmer, um sich mindestens sechs Millionen Mal zu verkaufen und vor allem in Großbritannien „The Verve“ zum (fast) neuen großen Ding zu stilisieren. Wem Oasis zu kantig und krachig, wem Blur zu intelligent war, für den kamen Zeilen wie „I just can’t make it alone. Can you comfort me tonight?“ gerade recht.

Verve bedienten gleich mehrere Zielgruppen: Einsame schmachteten in „Bitter Sweet Symphony“ und warteten jeden Abend auf den erlösenden Anruf („I left you my dreams on your answering machine“). Pärchen brüllten zu „Sonnet“ so laut wie möglich auf Tanzflächen: „Yes, there’s love if you want it – oh Lord“. Und dann waren da noch die Drogensüchtigen. Alle, die immer schon gezweifelt hatten, ob man die Welt auf Ecstasy oder sonst was ertragen könnte, stimmten plötzlich in den Chor zu Ashcrofts „The drugs don’t work“ ein. Der Sänger selbst erklärte in der Spex seine gespaltene Wahrnehmung der Realität nach ersten Acid-Experimenten: „Was mich ängstigt, ist, dass du einen Fluss siehst und nur noch denken kannst: Wunderschön, aber es wäre verdammt viel besser, wenn du zu wärst.“

Mittlerweile hat Ashcroft die Band ein zweites Mal aufgelöst und vor einigen Wochen sein Soloalbum „Alone With Everybody“ rausgebracht. Nun ist er auf Tour, seine Frau ist an den Keyboards auch dabei, und wahrscheinlich kümmert sich während der Konzerte eine fürsorgliche Nanny im Hotel oder Bandbus um das gemeinsame Kind.

Und so wirkt Ashcroft auf der Bühne denn auch einigermaßen relaxt. Zwei Diskokugeln hat er aufhängen lassen auf der Bühne – so fällt von seinem eigenen Glamour immer auch ein kleiner Strahl auf uns im Publikum. Außerdem lässt uns der Sänger gern zwischendurch von grellen Stroboskopblitzen blenden. Eigentlich schon zu viel Hektik für eine Veranstaltung, bei der es eher ums Mithymnisieren geht. Richtig gewittrig werden Sound und Licht bei seinem Song über New York von der neuen Platte. Hier kann Ashcroft mit etwas aggressiverem Posing rumexperimentieren. Die Gitarren donnern und zischen, die Streicher vom Band machen endlich eine Rauchpause und es riecht nach gutem, alten Rock. Sogar zwei Bläser, Trompeter und einen Saxofonisten hat The Ex-Verve mit auf Tour genommen. Richtig gut funktionieren aber doch am besten die opulenten, fett arrangierten Verve-Nummern.

Ohne Hymnenbeschallung will der Ashrcroft-Fan, viele Pärchen, bei denen die Frauen mehr Tattoos als die Typen haben, dann aber doch nicht in die einsame Nacht entlassen werden. Leider hält sich Ashcrofts Ausstrahlungskraft über die Langstrecke eines Konzerts in Grenzen. Vielleicht sollte er mal hüpfen, sein Hemd hochreißen oder einen dreckigen Witz reißen. Ashcroft ist gut auf der Kurzstrecke, der 100-Meter-Läufer im Popolymp. Auch er hat schon nach knapp einer Stunde keine Reserven mehr und schleicht sich ins Dunkel. Zwei Roadies mit Taschenlampen suchen daraufhin die Bühne ab, als hätte sich Ashcroft versteckt. Vielleicht hatte das Kind geschrien.

Der Sänger kehrt zurück mit Akustikgitarre und kleiner Besetzung. Der Trompeter stopft gefühlvoll die Tönchen und jetzt könnte man sich fast vorstellen, dass wir gerade die Aufnahmen zur Musik eines ganz soften Autowerbespots miterleben. Das war dann auch schon die Zugabe. Ohne weitere Proteste zieht der Fan ab. Am nächsten Tag wird er Ashcroft vergessen haben, nur diesen Ohrwurm kriegt er nicht los. ANDREAS BECKER

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