Gottes Werk, Marias Beitrag

Macht sich strafbar, damit die Frauen straffrei bleiben: Eigentlich müsste Maria Geiss-Wittmann, Initiatorin des Projektes, jede Geburt anzeigen

aus Amberg IRENE KLEBER

Das Kind lag unter einem Gullydeckel an der Römersbühlerstraße. Ein Fliegengewicht, 2.300 Gramm schwer, 48 Zentimeter lang. Nur ein Ärmchen lugte aus der weißen Plastiktüte mit der Aufschrift einer Reinigungsfirma. In der Nacht zum 27. März 2000, so sollte es später in den Lokalnachrichten heißen, habe eine unbekannte Mutter ihr neugeborenes Mädchen offenbar in Panik getötet und den Leichnam in Grafenwöhr abgelegt. „Warum nur“, sagt Maria Geiss-Wittmann leise, „warum hat diese Frau uns damals nicht gefunden.“

Die Sozialpädagogin, 66, große Hornbrille, zarte Fältchen, leitet nur eine halbe Autostunde von dem Fundort entfernt, im oberpfälzischen Amberg, das „Projekt Moses“. Dort können Mütter, die eine ungewollte Schwangerschaft ausgetragen haben, seit einem Jahr gleich nach der Geburt ihre Neugeborenen abgeben. Anonym. Straffrei. Mit Bedenkzeit sogar, denn erst nach acht Wochen geben die Mitarbeiter vom Sozialdienst katholischer Frauen (SKF) die Babys frei zur Adoption.

Etwa 50 getötete Neugeborene werden jedes Jahr in Deutschland gefunden. Versteckt, verscharrt, verbrannt. In Gefriertruhen gelegt, in Schuhkartons oder wie neulich in Nürnberg in einen gelben Sack, der Säugling wurde erst auf dem Fließband der Sortieranlage entdeckt. Experten von der Kriminalpolizei rechnen mit einer Dunkelziffer von mindestens tausend Kindern, die jedes Jahr sterben, weil ihre Mütter nicht wissen, wohin mit ihnen.

Sie alle könnten leben, glaubt Maria Geiss-Wittmann, wenn ihre Mütter während und in den Tagen nach der Geburt nicht allein gewesen wären. „Im Wochenbett sind sie in einem hormonellen Ausnahmezustand. Manche bekommen Panik, von ihrem Umfeld ausgestoßen zu werden oder ihr Leben nicht mehr zu schaffen. Sie drehen durch.“

Der Fall Grafenwöhr hat erschüttert. Und er hat bewirkt, wofür die Moses-Gründerin schon seit Jahren streitet: Seit drei Wochen gibt es eine Klinik für anonyme Geburt.

Erstmals in Deutschland hat sich das St.-Anna-Krankenhaus im benachbarten Sulzbach-Rosenberg bereit erklärt, Kinder zu entbinden, ohne die Mütter nach ihrem Namen zu fragen. Also: das Personenstandsgesetz zu ignorieren, das Zeugen verpflichtet, eine Geburt innerhalb von sieben Tagen mit dem Namen der Mutter den Behörden zu melden. „Für mich steht der Schutz des Lebens vor der Bürokratie“, sagt der Chef der dortigen Gynäkologie, Jörg-Dietrich Dodenhöft (48). „Wenn wir hier nur eine einzige Mutter davon abhalten können, ihr Baby in Panik zu töten, ist es mir den Streit um das geltende Gesetz wert.“

Die Klinik mit der roten Backsteinfassade in Sulzbach-Rosenberg ist klein, aber hochmodern. 32 Ärzte kümmern sich hier um maximal 220 Patienten. In der Gynäkologie (36 Betten) sind neben Dodenhöft sieben Ärzte und 21 Teil- und Vollzeitschwestern beschäftigt. Die Entbindungsstation, in Pastelltönen gehalten, hat neben dem klassischen Kreißsaal auch ein Geburtszimmer, mit rosa Kissen, Kuscheltieren und einer Korb-Sitzecke. Alle Utensilien für eine moderne Entbindung gibt es hier: Geburtshocker, Geburtsseil, eine rote Geburtswanne steht im Nebenzimmer. 500 Babys werden hier jedes Jahr geboren. Findelkinder gab es noch nicht.

Im Ortskern der mittelalterlichen Stadt (21.000 Einwohner), ein paar Minuten von der Klinik entfernt, ist die anonyme Entbindungsstation Hauptthema in diesen Tagen. Die Sulzbacher Zeitung berichtet ausführlich über die juristischen Probleme. Vor dem Rathaus, beim Andenkenstand am Luitpoldplatz, am Stammtisch im Gasthof Bayerischer Hof wird laut geredet. „Die Frau Geiss wird sich schon was dabei gedacht haben, die weiß, was sie tut“, sagt eine Frau mit Kopftuch. „Ich finde, dass Männer da sowieso nichts dagegen zu protestieren haben, wo sie gar nie in so eine Lage kommen“, brummt ein Mann Mitte 50 am Wirtstisch. „Logisch ist das mit der Klinik gut“, ruft die Bedienung über die Schulter. „Bevor die Frauen ihre Kinder umbringen!“

Es sieht danach aus, als stünde Sulzbach-Rosenberg hinter Maria Geiss-Wittmann, hinter dem Gynäkologen Dodenhöft und hinter dem Amberg-Sulzbacher Landrat Hans Wagner (CSU), der seine Hand wacker über das Projekt hält. Denn noch ist völlig unklar, ob nicht das bayerische Innenministerium dem Gesetzesbruch einen Riegel vorschiebt. „Das darf und das wird nicht passieren“, sagt Maria Geiss-Wittmann. Sie könnte viele Geschichten erzählen. Von Frauen, die verzweifelt beim Projekt um Hilfe flehten, und denen sie vor dem 11. September sagen musste: „Wenn Sie nicht entdeckt werden wollen, dürfen Sie zur Geburt nicht hierher kommen. Sie müssen das allein schaffen. Auf einer Toilette, in einem Hinterzimmer. Irgendwo, wo Sie niemand sieht.“

Oder jener Fall, der sie angetrieben hat, so lange zu streiten, reden, argumentieren, bis das Projekt Moses durchgedrückt war – und letztlich die anonyme Geburtsstation: Anfang der 60er-Jahre machte die damals 27-jährige Sozialpädagogin Gefängnisbesuche. In Amberg saß eine Frau ein, kaum 18 Jahre alt – sie hatte ihr Baby nach der Geburt erstickt. „Versuchen Sie sich das vorzustellen“, sagt sie. „Neun Monate hatte dieses Mädchen aus Angst vor der Reaktion ihrer Eltern ihre Schwangerschaft versteckt. Als die Geburt einsetzte, ertrug sie still ihre Schmerzen, entband allein zu Hause in ihrem Bett. Bis das Kind schrie und sie zu verraten drohte. Da drückte sie in ihrer Verzweiflung dem Baby ein Kissen ins Gesicht.“ Erst als ein Arzt wegen der starken Blutungen später die Geburt feststellte, suchte man nach dem Säugling. Er lag in einer Schuhschachtel unter dem Bett.

„Ich habe dieses Mädchen damals verurteilt, ihm keinen Trost gegeben“, sagt Maria Geiss-Wittmann. „Heute weiß ich, es ist die Not, die Ausweglosigkeit, die solche Frauen zu Kindsmörderinnen macht. Sie haben Angst vor der Reaktion ihrer Umwelt, sie fühlen sich allein und verstoßen. Sie handeln, ohne zu wissen, was sie tun.“ Mit dem Gefühl, damals versagt zu haben, ist sie bis heute nicht fertig geworden.

Sie sagt, sie habe gelernt, sich „in die Not der Menschen hineinzudenken“. Sie habe beschlossen: Nie wieder geheime Geburten. Schluss mit dem „Jahrhundert-Elend für die Frauen“.

Sie ist ihrem Ziel ein Stück näher gerückt. Das Modellprojekt Moses hat schon in seinem ersten Jahr bundesweit Schule gemacht. In Hamburg, im brandenburgischen Schönow und seit Anfang August auch im niederbayerischen Passau gibt es ähnliche Projekte. In Frankfurt und Köln wird über vergleichbare Stellen nachgedacht. Und das Münchner Kloster St. Gabriel ist dabei, eine Babyklappe einzurichten, bei der Mütter ihr ungewolltes Kind heimlich deponieren können.

Wer die Mutter des toten Babys aus Grafenwöhr war, wird man wohl nie erfahren. Am Morgen des 31. März, so hieß es später in den Lokalnachrichten, wurde das Mädchen im Beisein von 80 Bürgern des Ortes neben der Kirche St. Ursula beerdigt. Der Pfarrer gab dem toten Findelkind einen Namen: Maria.

Notruftelefon des SKF Amberg: (0 96 21) 2 22 00