Häme und Gehässigkeit

taz-Serie „Zwischenzeiten“ (Teil 10): Im Sommer 1990 entdeckten Ostschriftsteller die neue Freiheit als Kampf um ihre Existenz. Bücher von Ostverlagen landeten auf dem Müll. Und es begann der Literaturstreit um Christa Wolfs Erzählung „Was bleibt“

von ULRIKE STEGLICH

Ich war fünfzehn, als eine Neuauflage von Salingers „Fänger im Roggen“ angekündigt wurde. Ein halbes Jahr lang fragte ich täglich aufgeregt in der Buchhandlung nach. Nichts. Dann ließ ich einmal einen Tag aus. Am nächsten Tag sagte die Buchhändlerin: „Ja, gestern kamen zwei Exemplare.“ Meine hoffnungsvolle Euphorie sank in den Keller. Stille. „Aber weil Sie jeden Tag hier waren, haben wir Ihnen ein Exemplar zurückgelegt.“ Ich trug meinen Schatz nach Hause und ahnte, dass das mit der Unmöglichkeit des richtigen Lebens im falschen vielleicht doch nicht so ganz hinhaute.

In der DDR konnte man seltsame Träume träumen. Etwa von einem Besuch in einer Westbuchhandlung. Dick bepackt würde man dort nach Stunden wieder herauskommen. Über das dafür nötige Kleingeld machten wir uns nicht wirklich Gedanken. Ein Paperback im Osten kostete 2 Mark. Preistechnisch schmiss man uns die Literatur sozusagen hinterher. Die Beute wollte dennoch hart erobert sein: Ein Plenzdorf war ebensolche begehrte, aber limitierte Bückware wie ein Salinger. Der Buchmarkt war strikt kontrolliert.

Es ging nicht nur um „Westbücher“. Kritische Schriftsteller galten in der DDR als Instanzen. Wegen ihrer literarischen Qualitäten, aber auch weil ihnen eine zusätzliche Rolle zugeschrieben wurde: die der politischen, moralischen, gesellschaftlichen Kritik. Offiziell gab es keine Opposition. Jemand musste das wachsende Unbehagen des Individuums formulieren. Davor stand die Zensur. Aber kaum jemand war besser darin geübt als ein Ostler, notfalls auch zwischen den Zeilen die kritischen Töne aufzuspüren. Namen wie Volker Braun, Christoph Hein, Christa Wolf, Heiner Müller, Ulrich Plenzdorf, aber auch die 1979 aus dem Schriftstellerverband ausgeschlossenen Klaus Schlesinger, Stefan Heym oder Adolf Endler (um nur einige zu nennen) standen für diese Generation von Intellektuellen. Viele waren keine Dissidenten und kein literarischer Underground. Aber sie waren Utopisten.

Die Utopisten, die im Herbst 89 endlich die Chance für einen „Sozialismus mit menschlichem Antlitz“ sahen, saßen folgerichtig in der Unabhängigen Untersuchungskommission zu den Ereignissen am 6. und 7. Oktober 89, an Runden Tischen, sie sprachen auf der Demonstration am 4. November und verfassten Aufrufe – auch den „für unser Land“, der die DDR-Bürger bat zu bleiben. Doch da hieß es schon nicht mehr „das Volk“, sondern „ein Volk“, und das wollte bald mehrheitlich keine Utopien und „keine Experimente mehr“.

Schon im Dezember sah sich Stefan Heym auf einer Kundgebung mit einem Meer schwarzrotgoldener Fahnen und Buhrufen auf seine Mahnung zur Besonnenheit konfrontiert. Das Band schien zerschnitten: Das Volk interessierte nun anderes als Kunst, und Stefan Heym zeigte seinerseits kein Verständnis mehr für eine „Horde von Wütigen, die, Rücken an Bauch gedrängt, Hertie und Bilka zustrebten auf der Jagd nach dem glitzernden Tinnef“.

Es war kein Wunder, dass damals kaum Zeit für Romane oder größere Werke war, sondern vor allem Essays, Aufsätze, Artikel entstanden. Zudem zeichnete sich für die Schriftsteller ab, dass es bald um die blanke Existenz gehen würde. Westverlage drängten nach der Währungsunion auf den Markt, während die Ostverlage gerade Aufarbeitungsliteratur ins Programm aufgenommen hatten – und darauf seit dem Sommer sitzen blieben. Viele Ostler bereiteten sich lieber mit Ratgebern auf die Marktwirtschaft vor oder stillten ihren Nachholbedarf an King und Simmel. Die Folge: Die Ost-Verlage kündigten Verträge und machten die Lager leer. Ganze Halden von Büchern fand man im Sommer 90, auf Kippen im Braunkohlentagebau oder auf einer Deponie unter Schutt und faulen Kartoffeln: Nicht etwa nur obsolete Agitationsschriften, sondern Schiller, Shakespeare, Trotzki – oder auch Volker Braun und Christoph Hein. Damals war öfter von dem niedersächsischen Pfarrer Martin Weskott zu lesen, der tonnenweise die Bücher holte und gegen eine Spende für „Brot für die Welt“ abgab.

Der Markt machte Kehraus. Aber nicht nur der Markt. Im Sommer 1990 begann etwas, was später euphemistisch der „deutsch-deutsche Literaturstreit“ genannt wurde. Nur dass er eigentlich nichts von all dem war. Für einen Streit begann er sehr einseitig und ohne Streitkultur, es ging auch weniger um Ost und West – und schon gar nicht um Literatur.

Der Anlass: Christa Wolfs Erzählung „Was bleibt“ erschien. Eine Erzählung von 1979, in der die Ich-Erzählerin vordergründig die Geschichte einer Observation durch die Stasi beschreibt. (Die Wolf’sche „Opfer-Akte“ umfasst 41 Bände). Und hintergründig die Angst, die Selbstzweifel und -vorwürfe, die allmähliche Erstarrung und Agonie – kurz: die Atmosphäre, die man im Osten der 70er und 80er fühlen konnte. Der Text wurde 1990 erstmals veröffentlicht, in einer 1989 überarbeiteten Fassung.

Aber noch bevor die Leser ihn zu sehen bekamen, erschienen in den westdeutschen Feuilletons schon erste Kritiken. Ulrich Greiner begann in der Zeit, Frank Schirrmacher folgte in der FAZ, mit ein bisschen Verspätung und etwas unbeholfen trat Hellmuth Karasek im Spiegel noch einmal beflissen hinterher. Ganze Seiten waren diesen – interessanterweise durchweg männlichen – Kritikern weniger die Erzählung (bei Greiner steht dieses Wort nur noch in Gänsefüßchen), sondern vielmehr die Person Christa Wolf wert, die nun vorrangig als „Staatsdichterin“ oder auch als „Musterschülerin“ tituliert wurde. Man unterstellte ihr SED-Hörigkeit, nachträgliches Opfergehabe, „Mangel an Feingefühl“ (Greiner) gegenüber den Stasi-Opfern, Staatsverlängerung, Privilegien, mangelnden Widerstand. Heimo Schwilk wiederum fand im Rheinischen Merkur besonders schlimm, dass der „DDR-Kassandra Tschernobyl gerade recht“ gekommen sei, „was der Chronistin des Schreckens denn auch mit mehr als 400.000 verkauften (West-) Exemplaren reichlich honoriert wurde“ – und das war natürlich ganz übel. Frank Schirrmacher aber ging noch weiter, indem er der Autorin, die zur Nazizeit Jugendliche war, einen „autoritären Charakter“ bescheinigte – und somit die Traditionsmuster klar verteilte.

Sämtliche berechtigten und wichtigen Fragen soffen so in den vorgefertigten Antworten ab. Barsch wurde abgehandelt: Nichts gesagt zu 1953, 1961 und 1968 – schlecht. Nicht ausgereist - ganz schlecht. Und warum erst 1990 all diese Vorwürfe aus dem „moralisch ausgeruhtem“ Westen? Karasek begründet das mit der „Epoche, in der man die DDR um des lieben Friedens und um der utopischen Hoffnung willen nicht reizen wollte“.

Was an diesen Anwürfen westdeutscher Literaturkritik (nicht Literaten) stutzig machte, war nicht nur, dass zwischen Werk und moralischer Integrität des Autors nicht mehr unterschieden wurde. Zum anderen nahm kaum einer der Kritiker das Wort „Utopie“ in den Mund, denn dann hätte man unterscheiden müssen zwischen politischer und poetischer Utopie.

Die Schriftsteller waren keine Politiker. Machte es wirklich keinen Unterschied, einem realen oder idealen Sozialismus angehangen zu haben, auch wenn die Mehrheit von beidem nichts mehr wissen wollte? Machte es keinen Unterschied, die DDR-Literatur aus Binnen- oder späterer Außensicht zu lesen? Und warum fragte keiner, ob Schriftsteller wie Braun oder Heym indirekten und direkten Anteil daran hatten, dass überhaupt noch genug Leute für eine so friedliche Revolution im Lande waren?

Noch zehn Jahre später beschleicht einen bei der Lektüre dieser Aufsätze von 1990 ein Frösteln: Diese Häme und Gehässigkeit, dieser autoritär-abkanzelnde Ton, diese moralische Unangreifbarkeit, weil man auf der „richtigen“ Seite der Elbe saß – kam sie dem Ostleser nicht verdammt bekannt vor? Nur dass diesmal angeblich alle wahren Antifaschisten und Diktaturresistenten auf der anderen, der westlichen Seite versammelt sein sollten.

Es war keine Literaturkritik: Es war die Zeit der Abrechnung. Es ging um nichts weniger als die kulturelle Deutungsmacht und die Entsorgungshoheit. Greiner: „Wer bestimmt, was gewesen ist, der bestimmt auch, was sein wird.“ Schluss sollte sein mit der „Gesinnungsästhetik“ nicht nur einer Wolf, sondern auch eines Grass oder Jens.

Natürlich fehlte es auch nicht an (auch internationalen) Reaktionen auf diese Töne: Adolf Muschg spöttelte in seiner „Rede an einen abgefahrenen Zug“: „Auf einmal gibt es doch eine Partei, die immer recht gehabt hat, am meisten dann, als sie selbst aufgehört hatte, daran zu glauben.“ Und Lothar Baier schrieb in „Scheidung auf literarisch“: „Wie bei gewöhnlichen Trennungen ist das schwergewichtige Wort ‚Schuld‘ die bevorzugte Waffe ... Der Partner soll endlich zugeben, daß er die ganze Schuld an der Misere trägt. Man ist ihm jetzt auf die Schliche gekommen. ... Geahnt hat man es schon immer, aber dem häuslichen Frieden zuliebe den Mund gehalten und nicht weiter nachgefragt. Aber jetzt ist die Schonzeit zu Ende.“

Trotz aller Widerrede und kluger Analyse: Für diese Generation von DDR-Schriftstellern begann nun eine Zeit des Schweigens. Und ein Jahr später wurde auch die „Prenzlauer Berg-Szene“ von den Stasi-Akten eingeholt. Zwar verfügte nur eine kleine Minderheit über eine Täterakte, dennoch war zunächst der ganze Laden diskreditiert. Wenn wirklich, wie Uwe Wittstock im Sommer 1990 schrieb, der Literaturbetrieb prädestiniert dazu sei, aufgebrochene moralische Konflikte der Allgemeinheit auszufechten, dann war jener Sommer für die ostdeutsche Gesellschaft ein mehr als schlechtes Zeichen. Über die Folgen solcher abgewürgten Auseinandersetzungen in einer Zeit fortlaufender Verluste schreiben nun die Politikredakteure täglich.

Mein erträumter erster Besuch in einem Westberliner Buchladen geriet übrigens zum Debakel. Ich schaute eine ganze Weile die Regale an – und ging wieder raus. Es war alles da. Und es war teuer. Aus einem Gebrauchsgut war ein Luxusgut geworden. Aber das war nicht der Grund für mein Unbehagen. Der Grund war, dass alles verfügbar war. So viel, dass ich mich nicht entscheiden konnte. Es machte keinen Spaß mehr.

Es dauerte ein halbes Jahr, bis ich mich an diese Buchläden gewöhnt hatte. Der Salinger von damals ist eines der wenigen Bücher, das ich niemals verborge. Und dass es ein richtiges Leben im falschen geben kann, habe ich erst im Westen richtig begriffen.