SERBIEN: JETZT ENTSCHEIDEN KLEINBÜRGER UND STAATSBEDIENSTETE
: Die Stunde der Opportunisten

Seit Rosa Luxemburg und der Massenstreikdebatte Anfang des 20. Jahrhunderts wissen wir, dass Streiks, Demonstrationen und alternative, das Meinungsmonopol der Herrschenden durchbrechende Medien Voraussetzungen für den Sturz eines totalitären Regimes sind. Doch seit der Revolution 1918/19 wissen wir in Deutschland auch, dass es letztlich die Kleinbürger und Staatsbediensteten sind, die über das Schicksal einer in Bewegung geratenen Nation entscheiden. Damals standen diese Leute für Restauration, später für Schlimmeres.

Bei den Revolten und Revolutionen der späten Achtzigerjahre in der DDR und anderen Ländern des Ostblocks spielte diese Schicht ebenfalls die entscheidende Rolle. Zwar waren es die Oppositionsbewegungen, die fast alle kommunistischen Regime zum Wanken brachten. Entscheidend für den Umsturz jedoch war die Implosion des Staatsapparats. Polizisten, Geheimdienstleute, Staatsbedienstete und die Armee waren in den meisten Ländern des sozialistischen Lagers nicht mehr bereit, das Politbüro mit ihrem Leben zu verteidigen.

In Serbien ist nun endlich – über 10 Jahre später – eine Situation entstanden, die die Funktionsträger des bisherigen Regimes zur Entscheidung zwingt. Im März 1991 konnte Milošević die Demokratiebewegung von Panzern niederwalzen lassen und gerade die Kleinbürger mit seiner nationalistisch-sozialistischen Ideologie den ganzen Krieg hindurch an sich binden. Doch angesichts des oppositionellen Wahlsiegs beginnt die Loyalität der Staatsbediensteten jetzt zu bröckeln. Die Funktionäre verlassen das sinkende Schiff, jeder muss nun selbst kalkulieren, wie es weitergeht: Wenn Milošević fällt, wie steht es dann um meinen Posten? Was, wenn er doch noch an der Macht bleibt?

Nicht die Opposition mit ihren Demonstrationen und Streiks, die in einer stillgelegten Industrielandschaft ohnehin sinnlos sind, die Kleinbürger und Staatsbediensteten werden in den nächsten Tagen entscheiden, was in Serbien geschieht. Jetzt ist die Stunde der Opportunisten. Ein paar hundert den Befehl verweigernde Polizisten können den Stein ins Rollen bringen. ERICH RATHFELDER