Ein Leitfaden, wie man glücklich wird

Bis dahin war alles so gegangen, wie sie es hätte vorhersagen können. Sie war aus dem Gehöft bei Oschersleben angereist, als Mitbringsel ihre abgebrochene Ausbildung als geheimdienstlich geschulte patriotische Kämpferin der DDR. Als Ort der Begegnung mit dem Westen hatte sie das „Palace“-Hotel in St. Moritz gewählt. Für vier Nächte reichte die Reisekasse. In der Nacht zum dritten Aufenthaltstag hielt sie einen jungen, unausgeglichenen Selfmademan an der Hand bzw. karessierte sie ihm Achselhöhlen, Schultern, Hoden, Füße, so wie sie es in den Aufbaukursen auf der Kundschafter-Hochschule des MfS gelernt hatte. Nach einigen Tagen sah sie, dass sie ihn gewonnen hatte. Am vierten Tag, sie war schon in sein Appartement eingezogen, da sie ihres nicht mehr hätte bezahlen können, einem Montag, kaufte er ihr bei Armani, direkt gegenüber dem „Palace“, einen Pelzmantel, dessen Haube ihr Gesicht nunmehr umrahmt hielt, während das voluminöse Ding um ihren schlanken Leib schlabberte. Ich sehe aus, sagte sie sich, „wie aus einem edlen Gestüt“, ja, wie ein aufgezäumtes Pferd. Er selbst, ein oft mürrisch blickender, unsicherer Junge, kaufte sich eine schwarz plissierte Lederjacke zur holzfaserreichen Hose, die in den dünnen Arsch kniff. Sie stellten sich gemeinsam vor dem Spiegel auf.

Was jetzt weiter? Es war im Jahr 1990. Sie hatte noch den DDR-Pass und zusätzlich einen gefälschten belgischen Pass aus den Beständen des Dienstes; den gab es jetzt nicht mehr. Ihre Liebeskarriere reichte bis zu dem Punkt, an dem sie einen Pass vorzeigen musste. Sie brauchte eine Vita.

Sie wollte ihr Glück machen und schleppte den reichen Jungen wie einen Koffer mit sich herum. Über seine Geschäfte, über die er gerne Auffassungen ausgetauscht hätte, konnte sie nicht mitreden. Es ist erstaunlich, wie wenig kommunikativ körperliche Beziehungen und der erste Ansturm der Faszination sein können. Sie langweilte sich, während er auf seine Art vor sich hin trauerte.

Wie sie es gelernt hatte, fragte sie ihn nach seiner Jugendzeit aus, nach seinen Erlebnissen. Er redete gern von sich. Bei kritischer Selbstprüfung fand sie sich „brauchbar“. Dies gehörte als Seitenthema zum Glück: sich wirksam zum Einsatz zu bringen.

Sie fuhr nach Zürich, ließ sich dort über ältere Kontakte einen Pass fabrizieren mit einem dazu passenden Lebenslauf samt Urkunden. Dann aber zeigte sie diesen Pass nirgends vor, weil sie zögerte, sich von ihrem wirklichen Lebenslauf zu trennen. Zweimal hatte sie, zuletzt für den Pass, ihrem Jungen Geld aus dem Jackett genommen. Sie hatte anfangs die Legende eingeführt, sie stamme aus einem Hause, das nicht ohne Einkommen sei. Die unbedachte Improvisation behinderte sie sehr. Eine Legende wiederum, die diesen Widerspruch vermied, hätte ihren Aufenthalt im „Palace“-Hotel unplausibel gemacht.

Wie man es macht, ist es falsch, sagte sie sich, machte aber jetzt keine Fehler mehr in der Aufzucht der jungen Liebespflanze, die den Selfmademan neben ihr hielt und auch in ihr eine Energieflamme des Eifers instand hielt. Was fehlte, war ein „geistiges Band“. Sie versuchte, ihm vorzulesen. Sie wollte von ihm lernen, was seine geschäftlichen Aktivitäten ausmachte, darüber redete er freiherzig. Sie kaufte ein „Vademecum für Männer“, las heimlich. So füllte sie die Zeiträume zwischen den Kohabitationen. Nachts lag sie wach, sann darüber nach, wie sie den glücklich angefangenen Faden weiterspinnen könnte. Dies alles schien ihr „im Auftrag“ leichter. Es entfiel dann die Frage, ob sie die Eroberung glücklich machte.

Man konnte im Grand Hotel nirgends lesen. Beim Essen nicht, und wenn sie mit ihm im Foyer oder in der Bar saß, auch nicht, Nachts nicht, weil er beim Schlafen kein Licht vertrug. Während der Berührungen ohnehin nicht. Wie nach einer Zigarette gierte die lesewütige Mitteldeutsche nach einem Buch. Allenfalls auf einer der Toiletten des Hotels (keineswegs aber im Bad des Appartements) konnte sie für kurze Zeit etwas Lesbares zücken. Sie überlegte, ob sie sich dem Jungen offenbaren sollte. Sie meinte ihn weitgehend „im Griff zu haben“. Inzwischen näherte sich der Oktobertag, an dem sie Bundesbürgerin würde. Sie wartete, ließ alles im Unbestimmten. Er flog wegen eines dringenden Geschäftskontaktes nach Venezuela, sie „hielt die Stellung“ im „Palace“. Bei der Rückkehr holte sie ihn in Zürich ab, da sie auch seinen Wagen verwaltete. Er schenkte ihr einen Klunker.

War das das Glück, das sie sich erhofft hatte? Ein Glück, für das mächtige Funktionäre ihre Laufbahn riskierten? Sie haderte einige Tage lang, fühlte sich schwach. Dann fuhr sie ohne Erläuterung und Abschiedsgruß über Chur, Lindau, München, Hannover, Magdeburg nach Oschersleben zurück. Der große Junge in St. Moritz kannte weder ihre Identität noch ihre Adresse.