Furchtlos in Oldenburg

■ Ex-Terroristin Inge Viett las / Bedürfnis nach Ost-West-Vergangenheitsbewältigung

„Wer wird, wenn ich mal entlassen werde, sich überhaupt noch dafür interessieren, was wir einmal wollten?“, fragt sich Ex-Terroristin Inge Viett, in ihrer Autobiografie „Nie war ich furchtloser“. Die Anwort lautet: Viele! Zwanzig Minuten vor Beginn ihrer Lesung sind bereits alle Stühle besetzt. Eine Viertelstunde später ist die Luft stickig und die Menschen quetschen sich zwischen den Regalen und Stühlen der Oldenburger Ossietzky-Buchhandlung.

Das Publikum ist gemischt: Die Che Guevara-T-Shirt- und Parka-Fraktion ist genauso vertreten wie die Universitäts-Bibliothekarin oder der strenge GK-Lehrer. Menschen mittleren Alters, die sich an die RAF-Fahndungsplakate noch erinnern, neben Jüngeren, für die die Vergangenheit der Inge Viett abenteuerliche Geschichte ist. In ihrer Lesung springt sie von Schauplatz zu Schauplatz ihres Lebens. Langsam spannt sie den Bogen vom Erdulden der für sie abstrusen Autoritäten bis hin zum Entschluss, das kapitalistische System zu bekämpfen.

„Das Unmenschliche am Gefängnis ist nicht die Tatsache, dass man in ein bestimmtes Terrain eingesperrt wird“, liest sie, sondern dass der Mensch „in allem fremdbesetzt und unterworfen“ wird. Die Distanz zu der Vortragenden ist noch groß, die Welten der ZuhörerInnen und der ehemaligen Gefangenen scheinen extrem unterschiedlich. Doch als Außerirdische hält sie nicht her: Die Wir-Oldenburger- und Sie-Terroristin-Konstellation bröckelt. Identifikation schafft ihre Beschreibung der Tris-tesse, der Biederkeit der Provinzstadt Eckernförde, in der sie ihre Kindheit verbrachte. Einige nicken oder klatschen lautlos, als die Autorin erklärt, dass nicht etwa ihr kaputtes Elternhaus sie in die Radikalität trieb, sondern die „soziale Kälte einer herzlosen Kriegsgeneration, die ihre beispiellosen Verbrechen leugnete“. Es war die Generation, die „nichts dabei fand, dass ehemalige Massenmörder zu dekorierten Helden der Demokratie gekürt wurden“.

Ein Zeitsprung führt nach Kreuzberg, Ende der Sechziger. „Eine militante Radikalität hatte die Jugend erfasst“, liest Inge Viett und durch den Raum schwirren Bilder von Straßenschlachten, Kommuneleben, Vietnamkriegs-Protes-ten, Puddingattentaten und Stimmen, die „Macht kaputt, was euch kaputt macht“ singen. „Niemals war ich furchtloser“ steht für ihre Untergrund-Zeit in der „Bewegung 2. Juni“. „Wir sind die größten Romantiker und hängen an der Idee, dass ein Mensch, der nichts mehr zu verlieren hat, sich erheben und seine Würde erkämpfen wird.“ Inge Viett liest nicht über actionreiche Banküberfälle und tragische Liebesgeschichten à la Schlöndorf. Ihr geht es um „Auszeiten“: Momente des Zweifelns an ihrer RAF-Zugehörigkeit, der Reflexion in Bombay und Beirut, des Eremiten-Daseins am Anfang in der DDR.

Die Sympathie für ihre zweite Heimat stand, neben der Gewaltfrage, auch im Zentrum der anschließenden Diskussion. Wie konnte Inge Viett nur mit Stasi-Spitzeln Cognac trinken? „Ich bitte Sie“, erregt sich die Autorin, „denkt ihr, hier wird nicht gespitzelt?“ Manche klatschen, aber aus vielen ungläubigen Gesichtern ist ablesbar, dass sie etwas dazugelernt haben. Auf Pro-DDR-Argumente will sich das Publikum dennoch nicht einlassen.

„Gibt es keine Veränderung ohne Gewalt?“ Das beschäftigt viele. „Nein“, antwortet Inge Viett und ein Murren geht durch den Saal. Eine Besucherin erzählt vom katholischen Widerstand in den USA. Die Autorin schüttelt den Kopf: „Systemwechsel gehen nur mit Gewalt.“ Die Diskussion läuft im Kreis: Soll man Menschen zur Revolution zwingen? Ist das besitzende Viertel der Menschheit nicht für die Armut der anderen verantwortlich? Nach der Lesung sammelt sich ein Grüppchen um die Autorin. Das Unverständnis zwischen Ost- und Westdeutschen lässt ihnen keine Ruhe. Mona Motakef