Ende des Spindoctoring

Tony Blair ist nicht mehr „everybody’s darling“. Sein Spindoctoring ist gescheitert.Ein Lehrstück auch für seine Nachahmer: Politik ist nicht das Gleiche wie Werbung

Drastisch sinkende Umfragewerte für Tony Blair und die Labour Party haben auf dem Parteitag letzte Woche zwei Befreiungsschläge ausgelöst. Zum einen befreiten sich die Delegierten aus der Rolle eines Blair-Gefolgschaftsvereins, in die sie sich seit Jahren – bis hin zur Genehmigung ihrer Reden durch Blairs Medienberater – hatten zwängen lassen: Mit überwältigender Mehrheit stimmten sie gegen den Widerstand des Premiers und des Schatzkanzlers für eine Rentenerhöhung.

Zum anderen löste sich aber auch Blair aus seiner Rolle als „everybody’s darling“ mit überparteilicher Attitüde. Er stellte sich frontal gegen die durch die Energiesteuer aufgebrachte Mehrheitsstimmung und attackierte den Egoismus von Spediteuren, Konzernen und Konservativen. Der erste Repräsentant von „New Labour“ revitalisierte die Solidarität von „Old Labour“. Aus einem, der stets auf Massenblätter und den Wellengang der Mehrheitsmeinungen schielte, wurde plötzlich einer, der der Massenmeinungsmache und dem Massenprotest Paroli bot.

Gegen den Mainstream! Ein neuer Blair oder doch nur der bisherige, als Darsteller einer von der Lage aufgezwungenen neuen Rolle? Ist der vorgetragene kämpferische Inhalt glaubwürdig oder lediglich eine neue Methode des Spindoctoring, um aus der Defensive zu kommen? Dass diese Frage gestellt wird, rührt daher, dass Blairs Spindoctoring zum Politikmodell für ganz Europa wurde. Jetzt sitzt Blair in dieser Falle – müssen seine Nachahmer dies bald ebenfalls erleben?

Spindoctoring bezeichnet jene Machart von Politik im „Informationszeitalter“, die die Aktions- und Darstellungsschwerpunkte mehr an Umfragen als an Überzeugungen und Konzepten orientiert. Dabei bedient man sich derselben operativen Tricks und Mittel wie das werbepsychologisch ausgefeilte Produktmarketing für Massenbedarfsgüter. Der Einsatz von Werbeagenturen für Wahlkämpfe, um zu gefälligen und anheimelnden Verpackungen zu kommen, ist nicht neu. Neu ist, dass diese von einer medialen Hilfsfunktion zur Präsentation von Kandidaten, Parteien und Initiativen zur Hauptfunktion geworden sind – zum Substitut für Politik.

Die vier- oder fünfjährigen Wahlzyklen – die es, so jedenfalls die politologische Kritik, auch schon unmöglich machen, längerfristige Handlungsorientierungen zu verfolgen – werden aufgelöst in monatliche oder gar wöchentliche Umfragezyklen. Nicht die Grundströmungen gesellschaftlicher Entwicklungen, sondern die Wellenbewegungen an den Wasseroberflächen werden zur Richtschnur. Public Relations wird zum Selbstzweck. Beliebigkeit gilt als Erfolgsrezept. Scheinprofile ersetzen Profile. Initiativen, von denen man nicht vorher weiß, wie das allgemeine Publikum und deren Massenmedien darauf reagieren, werden kaum noch ergriffen.

Da sich aber alle Regierungen, Kandidaten und Parteien zunehmend an dieser scheinbaren Erfolgsmethode orientieren, gleichen sie sich in Aussagen und Aktionen an. Sie vermeiden strittige Punkte und Diskussionen. Um der dadurch entstandenen Sterilität entgegenzuwirken, wird auf das mediale Personal gesetzt. So wurde seinerzeit Tony Blair statt Gordon Brown Labour-Kandidat, obwohl letzterer als der politisch profundere und führungsstärkere galt; für Blair sprach die bessere Fernsehtauglichkeit. Auch bei dem Votum für Schröder statt Lafontaine als SPD-Kanzlerkandidat nannten viele das Argument, der eine sei geeigneter, Kanzler zu werden, der andere nur geeigneter, Kanzler zu sein. Der neue Ministerpräsidentenkandidat des italienischen Regierungsbündnisses, der römische Bürgermeister Rutelli, wurde allein wegen seines Aussehens erkoren, kaum jemand traut ihm die spätere Amtsausübung zu. Bei der Auswahl regionaler Spitzenkandidaten in Italien wurde zuletzt mehrfach auf bekannte Fernsehmoderatoren zurückgegriffen.

Die Entpolitisierung der Politik gilt als unverzichtbare Politikmethode. Weil dieser Eindruck vorherrscht, sind Spindoctors von Beratern zu Inhabern politischer Macht geworden. Der Machtinhalt erschöpft sich im Erringen und Erhalten von Macht. Dass Wahlen aus ganz anderen Gründen gewonnen wurden als durch Marketingzauber fällt aus den Erörterungen raus – ebenso, dass sie auch anders hätten gewonnen werden können oder gewinnbar wären. Hätte der verstorbene Labour-Führer Smith, dessen Nachfolger Blair wurde, mit seiner die britische Öffentlichkeit aufrührenden niederschmetternden asozialen Bilanz der konservativen Politik seit Thatcher (dargelegt im Bestseller „Social Justice“) die Wahl nicht ebenso gewinnen können? „Better than you deserve“ lautete nach dem Labour-Sieg 1997 die Überschrift eines Artikels von Samuel Brittain in der Financial Times, der beschreibt, dass Blair das mehrheitliche Empörungspotenzial über die konservative Politik kaum ausgeschöpft hatte. Übersehen wurde bei den Analysen des imposanten Blair-Erfolgs auch, dass er weniger Stimmen erzielt hatte als sein Kandidatenvorgänger Kinnock. Es war ein Wahlerfolg in Prozenten, fußend auf massenhaften Enthaltungen.

Spindoctors operieren mit ihren medialen Stimulanzien auf der Basis der eskalierenden Politikmüdigkeit und sich ausbreitender Lähmung, die von ihren Methoden selbst hervorgerufen werden – keineswegs nur in Großbritanien. Nie zuvor wurde von Regierungen und Parteien so viel Aufwand betrieben für die dauernde Wählerbeobachtung und darauf abgestimmte Politikdarstellung – ein permanentes Screening der öffentlichen Meinungsströmungen. Aber dennoch – kaum einer wagt zu sagen: deshalb – sinken die Wahlbeteiligungen, weil die Erfahrung um sich greift, sich im Politikangebot immer weniger repräsentiert zu sehen.

Spindoctors haben darauf keine Antwort, weil diese voraussetzt, dass authentische Werte und Interessen, tatsächliche Probleme und diese überwindende Perspektiven den Kern der Politik und der wirklichen Erwartungen ausmachen – und weil authentisch nur jene sind, die eine echte Passion haben, die opportunistische Themenwechsel nicht erlaubt. Gespielte Passion hat eine kurze Halbwertszeit. Spindoctoring steht für gespielte Passion – und opportunistische Themenwahl. Diese Methode ist allenfalls durchhaltbar in krisenfreien Zeiten. In krisenhaften und widerspruchsvollen Perioden wie der gegenwärtigen sind diese Methoden flüchtig.

Spindoctors haben die Besetzung der Begriffe so perfektioniert, dass die Diskrepanz zu den Taten sichtbar wird. Sie verkünden eine Art Zivilreligion, die alles Wohlklingende enthält: Freiheit, Menschenrechte, Frieden, Gerechtigkeit, Sicherheit, Umweltschutz, weniger Steuern – völlig unabhängig davon, ob die Praxis diesen Worten dient oder genügt. Während Religionen die Versprechenserfüllung ins Jenseits verschieben, werden Zivilreligionen daran gemessen, ob sie das Versprochene im Diesseits realisieren.

Geschieht dies nicht oder gar Gegenteiliges, so erzeugen sie lediglich einen Placebo-Effekt. Dieser wirkt jedoch nur in der medialen Scheinwelt und ist eine Art Software der Politik. Aber dahinter steht das Kontinuum der realen Welt mit ihren konkreten Erfahrungen und Betroffenheiten, die Hardware der Gesellschaft. Die Menschen leben zwar in beiden Welten. Wenn aber die erwarteten und verkündeten Antworten auf die Probleme der realen Welt ausbleiben oder zu dürftig sind, verlieren die Placebos ihre psychologische Wirkung.

Spindoctors setzen auf Corporate Identity der Parteien und den Kult um den Spitzenkandidaten. Er wird zum Wunderheiler stilisiert; das in ihn projizierte Bild darf nicht durch Widerspruch in den eigenen Reihen gestört werden. Beides entspricht dem Bedürfnis nach medialer Präsentation, ist aber haltlos wie die Zivilreligion. Jeder Spitzenrepräsentant scheitert an überzogenen Erwartungen, und die widerspruchslose Parteigefolgschaft – die mediale Kaderpartei – lässt sich in einer individualisierten und transparenten Mediengesellschaft nicht durchhalten. Was passiert, wenn man eine Partei zu einer stromlinienmäßig operierenden Maschine macht, hat Blair erlebt, der die Kandidatur von Ken Livingston zum Londoner Bürgermeister durch Kadersteuerung verhindern wollte.

Das Ende jedweden Spindoctoring ist stets vorprogrammiert. Wer immer darauf setzt, ruiniert zunächst die Politik und die beteiligten Personen. Ihnen droht ein vollständiger Glaubwürdigkeitsverlust. Dieser kann so weit gehen, dass eine Metamorphose zu ernsthafter Politik in der realen Welt nicht mehr geglaubt wird – und auch denjenigen Spindoctoring unterstellt wird, bei denen Worte und Taten übereinstimmen. Somit wird es zur existenziellen Bewährungsprobe für die Demokratie, die Spindoctors zu entlassen. Das öffentliche Bewusstsein ist dafür reif. HERMANN SCHEER

Hinweise:Public Relations wird zum Selbstzweck. Beliebigkeit erscheint als Erfolgsrezept. Profil ist nur ScheinSpindoctoring ruiniert Politik und Politiker. Ihnen droht vollständiger Glaubwürdigkeitsverlust