Subkultur-Literatur fast ohne Pickel

„Stereo Total“-Chanteuse Françoise Cactus liest aus ihrem jüngsten Buch  ■ Von Nils Michaelis

Das begeisterte Publikum hielt für eine erstklassige Show, was sich da auf der Bühne abspielte. Doch die Meinungsverschiedenheit zwischen der Schlagzeugerin Françoise Cactus und ihrem Gitarristen war genauso echt wie die dann live-on-stage ausgetragene Prügelei.

So etwas konnte erleben, wer ein Konzert der Lolitas besuchte, einer Band, die sich angeschickt hatte, die Wildheit des Punk in ihre trashige Rock'n'Roll-Definition hinüber zu retten. Das war in den 80er Jahren in Berlin, und von Typen, die ihr schlingerndes Schlagzeugspiel monierten, hielt Françoise Cactus schon damals nicht viel.

Vielleicht hätte man ahnen können, dass diese Frau es einmal zur Berühmtheit bringen würde, was ja dann mit ihrer Band Stereo Total auch ein bisschen geschah. Dass sie einmal als Schriftstellerin reüssieren sollte, war weit weniger absehbar, und dass zwei ihrer bislang drei Bücher ausgerechnet bei Rotfuchs, der Kinder- und Jugendbuchreihe des Rowohlt-Verlages erscheinen, hätte man nicht einmal als Witz verstanden.

Dabei war die damalige Prügelei natürlich doch ein bisschen Show. Denn statt eine einwandfreie Punkvergangenheit vorzuweisen, hatte Cactus Französische Literatur, Kunstgeschichte und Linguistik studiert, und ihre beiden Mitmusiker waren ebenfalls keine echten proletarischen Haudraufs, vielmehr aus dem Schoß ihrer Klasse gefallene und den wilden Max markierende Bürgersöhne.

Es sind zwei Seelen, die in der Brust der Musikerin/Schriftstellerin wohnen – mit ihrem kürzlich veröffentlichten Kinderbuch Zitterparties haben diese jetzt Namen: „Sissie“ und „Marie-Jeanne“. Zwei Mädchen, die, wie Cactus, in einem Dorf in der französischen Provinz aufwachsen. Marie-Jeanne „stammt aus dem untersten Proletariat (dem arbeitslosen)“, ist ein Draufgängertyp, entschlossen sich nicht die Butter vom Brot nehmen zu lassen. Sissie ist die schüchtern-verträumte Tochter besserer Kreise mit musischen Neigungen und vollendeten Manieren. Beide wollen hinausziehen, die Welt zu entdecken. Um dies besser bewerkstelligen zu können, hat Cactus ihrer Marie-Jeanne einen alle Weltwinkel ausspähenden Detektivspleen in den Kopf gesetzt, während die stiefmütterlicher gezeichnete Sissie immer etwas blass daherkommt. Marie-Jeannes Charakter erschöpft sich dabei nicht in einem urtümlich-direkten oder diffus antiautoritären Gestus. Vielmehr kommen einem die amüsanten und unflätigen Momente des Serge Gainsbourg-Films Je t'aime in den Sinn. Cactus' Lieblingskind teilt die Welt in ihre ganz eigenen Kategorien – zunächst einmal gilt es da mit den tölpelhaften Vorstadt-Rockern ihres Dorfes zu brechen.

Was Cactus ihren jungen Lesern zumutet, ist näher am prallen Leben als an dessen Schonwaschgang. Da wird gekifft und gekokst, werden Sexphantasien nicht in bemühte Metaphern gekleidet. Eigentlich müsste der „explicit lyrics“-Aufkleber auf dem Buchcover prangen, doch im Interview winkt Cactus ab: „Man muss sich doch bloß die Leserbriefe an Dr. Sommer in der Bravo ansehen, dann weiß man, was Heranwachsende wirklich beschäftigt.“ Und immer wieder tauchen Figuren jener Subkultur auf, die Cactus im echten Leben beschäftigen. Verweise auf die „Society For Cutting Up Men“, dem Ein-Frau-Verein der Warhol-Attentäterin Valerie Solanas, finden sich gleich neben Erwähnungen Sigmund Freuds oder Andreas Doraus. Cactus: „Statt Pferden und Pickel serviere ich den Leuten lieber ein paar Dinge, die sie nicht kennen. Obwohl: Ein paar Pickel kommen auch in meinem Buch vor.“

Für Cactus ist Zitterparties bereits Schnee von Gestern. Zur Zeit arbeitet sie an der Biographie einer Freundin, der Künstlerin Sabina Maria van der Linden. Erwachsenenliteratur, denn das bewegte Leben der Priestertocher, Ex-Prostituierten, Drogenabhängigen, Zeichnerin von Pornocomics, Berliner Underground-Ikone und Gestalterin diverser Stereo Total-Cover dürfte dann doch zu viel sein für die lieben Kleinen.

heute, 21 Uhr, Westwerk. Musikalische Begleitung: Brezel Göring