Keine schwarze Pädagogik

Auch nach dem Anschlag auf die Synagoge in Düsseldorf stellt sich die Frage dieses Sommers: Wie lassen sich Antisemitismus, Fremdenhass und rechte Gewalt verhindern?

Wir stehen nicht über dem Verhängnis, sondern mittendrin. Nur Selbstverständigung kann weiterhelfen

Diskursive Herausforderung und parlamentarische Zivilisierung der Rechten, entschiedener Verfassungspatriotismus und offensive Einwanderungsdebatte, Ächtung der Xenophobie und zivilgesellschaftliche Nacherziehung, sozialpolitische Maßnahmen der Prävention und Rückeroberung des staatlichen Gewaltmonopols – all diese politischen Antworten auf die rassistischen Strömungen in der deutschen Gesellschaft sind notwendig, aber nicht hinreichend. Schon deshalb nicht, weil die rechtsradikal drapierte Gewalt, das ethnische Ressentiment, der mörderische Rassenhass tief in die soziale Wirklichkeit hineinragen und ihre Wurzeln auch in Lebensweltpathologien haben. Dieser Nährboden ist freilich im Osten ein anderer als im Westen, auch wenn selbst hier zusammenwächst, was zusammengehört.

Die Bevölkerung der DDR hat mit der Wiedervereinigung genannten Angliederung an die Bundesrepublik sozialpsychologisch ihre eigene Kultur und Geschichte verloren. Eine ganze Generation, im Geiste von Klassenkampf, Antifaschismus und sozialistischer Autorität erzogen, sah sich genötigt, unter den Verlockungen der Marktwirtschaft, unter den Drohungen der Gesinnungsüberprüfung und unter dem Zwang zur gemeinen Anpassung ihre Biografie umzuschreiben und sich zu Opfern einer Gesellschaftsordnung zu machen, die sie doch in ihrer großen Mehrheit mitgestaltet hatten. Es sind die verlorenen Kinder der Nachfolgegeneration, die sich im Osten jetzt als Herrenmenschen aufspielen, ihrer trostlosen Existenz einen nationalen Sinn geben und mit der klammheimlichen Zustimmung ihrer Eltern nichtweiße Nichtdeutsche jagen. In dieser projektiven Form von mörderischer Selbstvergewisserung demonstrieren sie den undurchschauten Zusammenhang zwischen narzisstischer Kränkung und Wut, zwischen Selbst- und Fremdenhass. Es wirkt wie eine zynische Parodie auf die Fruchtbarkeit des realen Sozialismus, wenn kaum ein Jahrzehnt nach seinem Zusammenbruch aus seinem Schoße etwas kriecht, das doch nach der Legende nur dem Kapitalismus entspringen durfte.

Aber auch der Westen bietet der rechten Gewalt einen lebensweltlichen Rahmen. Respektable Kommenatoren reden bei der Analyse der zunehmenden gesellschaftlichen Brutalisierung von einer „Gewalt ohne Motiv“ (Harry Nutt in der FR), vom „Totschläger als Existentialisten“ (Michael Jeismann in der FAZ), vom „Eventcharakter“ einer rauschhaft erlebten Gewalt (Micha Hilgers in der taz) und warnen vor einer schnellen Einordnung in das politische Koordinatensystem. Sie suggerieren einen Zusammenhang mit der Spaß- und Erlebnisgesellschaft. Vieles spricht für die These, dass sich die Täter des nationalsozialistischen Jargons bloß bedienen und der neofaschistische Mummenschanz eine Verkleidung ist, die den bloßen Tabubruch symbolisiert und psychische Leerstellen plombiert. Tragen sie ihre Glatzköpfe, Runen-Tattoos, Springerstiefel und Baseball-Clubs nicht wie Signaturen eines phallischen Narzissmus? Handelt es sich nicht um Formen der Perversion – die bekanntlich zunehmend aus dem privaten in den öffentlichen Raum treten?

Diese Analysen sind triftig, aber treffen sie auf das faschistische Original nicht genauso zu? Trug der braune Straßenterror nicht ebenfalls Züge eines „sozialisierten Narzissmus“ (Adorno)? Wütete nicht der Sadismus auch in den Konzentrationslagern und bei den Mordaktionen der Wehrmacht (Goldhagen)? Es wäre deshalb fatal, den verirrten Trieb vom sozialen und politischen Kontext zu isolieren, der ihm erst Sinn verleiht und Wege bahnt. Der mutige Kämpfer gegen das Fremde braucht den Kameraden an seiner Seite, er braucht die Ohnmacht des Opfers, und er braucht die phantasmagorische Verbindung mit seiner Nation oder Rasse; all das stiftet Zugehörigkeit und Differenz, Identität also. Es agieren nicht einfach Modernisierungsverlierer und Globalisierungsopfer, wie es die postmoderne Variante der Verelendungstheorie gerne sehen würde. Aber eben auch nicht bloß persönlichkeitsgestörte Einzeltäter mit milieubedingten Traumatisierungen, die der forensischen Psychiatrie zugeführt werden müssen, oder hirnorganisch beeinträchtigte therapieresistente Monster, die lebenslang in Sicherungsverwahrung gehören. Es ist die brisante Verbindung von gescheiterten Lebensläufen mit sozialen Pathologien und vormodernen Weltdeutungen. Faschismus ist die Ästhetisierung der Politik – dieser Diagnose Walter Benjamins müssen wir hinzufügen: Er ist, mit seelischer Enthemmung, körperlicher Entgrenzung und sozialer Formlosigkeit einhergehend, auch die politische Inszenierung von Gewalt auf der Höhe der jeweiligen Zeit. Es geht um abweichende Formen von Identität, die immer in intersubjektiven Anerkennungsverhältnissen verankert ist.

Was sind die praktischen Konsequenzen aus diesen Einsichten? Was ist die „Therapie“ bei dieser „Diagnose“? Auf der Ebene des vorbewussten Untergrunds einer Gesellschaft gibt es keine Rezepte nach dem Motto: Gefahr erkannt, Gefahr gebannt! Veränderungen in den soziokulturellen Tiefenschichten verlangen den langen Atem einer kommunikativen Strategie, bei der sich die Gesellschaft über sich selbst verständigt: über ihre gegenwärtige Verfassung, ihre kulturellen Grundlagen, ihre sozialen Werte, ihre Zukunftsentwürfe – und eben auch über das, was sie ihren Kindern bietet und abverlangt. Diese Selbstverständigung ist ein öffentliches Gespräch, das in den unterschiedlichsten Feldern zu führen ist. Wir beginnen es zum Beispiel, indem wir über die Realität einer Einwanderungsgesellschaft sprechen oder über kollektiven Identitätsverlust im Prozess der Wiedervereinigung. Aber wir führen es auch dort, wo wir über die Funktion von Kampfhunden, über die Visionen der Biotechnologie oder über die Geschwindigkeitsbegrenzung auf unseren Straßen kommunizieren. Der Spendenskandal, solange er unaufgeklärt bleibt, ist ein Beispiel für das Misslingen eines solchen Gesprächs.

Es agieren nicht einfach Modernisierungsverlierer – aber auch nicht gestörte Einzeltäter

Das Besondere an Prozessen der Selbstreflexion, auch der kollektiven, ist gerade, dass in der Analyse selbst, wenn sie tief genug reicht, bereits das Veränderungspotential liegt. Weil die kommunikative Verständigung keine objektive Betrachtung eines äußerlichen Phänomens ist, sondern (vergleichbar dem psychoanalytischen Prozess) eine Selbstbetrachtung im Spiegel des Anderen, trägt die Selbsterkenntnis schon Züge der Veränderung. Weil wir nicht über dem Verhängnis stehen, sondern mittendrin, können wir uns nur auf diese Weise herausarbeiten. Wenn sich die gesellschaftliche Mehrheit im Spiegel ihrer Minderheiten betrachtet, wird sie auch ihre Mängel erkennen, von denen das Fehlen einer Kultur der Anerkennung nicht der geringste ist. Das ist das „Therapie“-Modell, das – jenseits einer schwarzen Pädagogik in Form unnachsichtiger Repression oder einer milden Sozialpädagogik in Form nachsichtiger Betreung – auch gegen den Rechtsradikalismus hilft.

MARTIN ALTMEYER