„Die Weltbank ist schlimmer“

Die argentinische Sängerin Mercedes Sosa über die Konjunkturen der Protestmusik, das westliche Bedürfnis nach Latin-Exotik und ihre persönliche Verarbeitung der Militärdiktatur in ihrer Heimat

taz: Als Sie in den Siebzigern zu singen begannen, haben Sie in Argentinien die „Poesía social“ ausgerufen – eine neue, sozialkritische Weise des Songschreibens. Die Militärjunta war damals im Begriff, die Macht zu übernehmen, und tat dies auch kurze Zeit später. Denken Sie im Zorn zurück?

Mercedes Sosa: 1970 war unter anderem das Jahr, in dem ich die Platte veröffentlicht hatte, die mir bis heute die liebste bleiben sollte: Sie trug den Titel „Navidad Mercedes Sosa“. Der Vietnamkrieg war damals in vollem Gange, und ich wusste, dass ich das Richtige tue – von daher habe ich nicht nur schlechte Erinnerungen an damals. 1970 hatte ich auch ein Konzert in der Basilika von Santo Domingo. Ich erinnere mich, weil ich mir, man mag es Naivität nennen oder auch nicht, nie Gedanken darüber gemacht hatte, ob es nicht vielleicht besser gewesen wäre, sich etwas diplomatischer zu verhalten und nicht immer einfach das zu singen, was mir so in den Sinn kam. Die Zeiten waren hart, es gab Tote auf beiden Seiten, vor allem jedoch auf unserer, und alle, auch wir, haben Fehler gemacht.

Was für Fehler meinen Sie? Die Linke stand doch auch gewaltig unter Druck.

Sie mögen es für dumm halten, aber ich bin der Meinung, der Fehler beginnt in dem Moment, wo man eine Waffe in die Hand nimmt – egal, ob es sich dabei um die Stadtguerilla handelt oder das Militär. Mein persönlicher Lebenslauf hat mich zu dem gemacht, was ich bin. Wenn ich eine Waffe in der Hand eines Menschen sehe, eine Maschinenpistole etwa, dann wird mir physisch schlecht.

Sie sind 1978 auf der Bühne verhaftet worden. Wie hat Sie dieses Ereignis geprägt?

Es hat mich nicht umgebracht. Ich muss hinzufügen, dass ich 1973 von dem griechischen Sänger Mikis Theodorakis besucht worden bin und mich mein Leben lang an seinen Satz erinnern werde: „Wir haben eine Militärdiktatur in Griechenland – ihr seid auf dem besten Wege dorthin. Pass bloß auf!“ Dieses Bewusstsein, dass sich die Dinge auch ändern können, hat mich fortan begleitet und in diesem Sinne auch dazu geführt, dass mich selbst schlimmste Ereignisse und Schicksalsschläge nie wirklich aus der Bahn werfen konnten. Als ich 1978 verhaftet wurde, da war mein Mann schon tot. Der Polizei ging es damals weniger darum, was genau ich singe, sondern für wen ich es singe, also die Stadtguerilla oder die gereizten Studenten. Mein Vertrag besagte, dass ich für die Innung der Tierärzte spielen würde, das hatte mein Sohn so eingefädelt. Ich habe mir daraufhin einen Anwalt geholt, und der schaffte es tatsächlich, mich aus der vertrackten Situation rauszuholen. Ich musste 1.000 Dollar Strafe zahlen, was damals eine irrsinnige Menge Geld war – und dem Anwalt wurde geraten, seinen Beruf niederzulegen oder das Land zu verlassen. Aber ich wurde nicht umgebracht, ich hatte Glück.

Sie haben daraufhin weiter Konzerte gegeben. Hatten Sie nicht den Eindruck, dass das immer gefährlicher wurde?

Ja, ich war ziemlich leichtsinnig damals. Die meisten der Konzerte wurden aber kurzfristig abgesagt, nachdem alles bereits organisiert und aufgebaut war. Gegen diese Absagen konnte man sich schwer wehren. Ich fasste dann schließlich den Entschluss, nach Spanien auszureisen. Ein Koffer und eine Handtasche voller persönlicher Erinnerungen, das war’s. Ich bin in den Flieger und weg.

Kann man, will man den Menschen vergeben, die Argentinien damals in die Militärdiktatur geführt haben?

Vergeben wäre zu viel verlangt. Was diese Menschen angestellt haben, ist einfach zu demütigend gewesen. Im Großen wie im Kleinen. Aber die unmittelbare Wut verblasst mit den Jahren. Ich bin von Polizisten in Gewahrsam unsittlich angefasst worden, man hat mir die argentinische Flagge um den nackten Körper gewickelt, um mich zu verletzen. Ich erinnere mich aber auch, wie sich einer dieser Polizisten schließlich bei mir entschuldigte und sagte, es sei ein Befehl von oben gewesen. Momente wie diese zeigen einem auf erschütternde Weise, wie auch diese Täter in gewisser Hinsicht Opfer waren.

Schlimmer als die Polizeibeamten waren die Militärs. Das Üble ist ja, und das habt ihr Deutschen ja auch erlebt, wenn ein Unrechtsystem die Gesellschaft durchdringt und an und für sich liebe, aber schwache Menschen nicht die Kraft haben, sich zu wehren. Mindestens 30.000 Menschen sind meines Wissens umgebracht worden. Und die Gesellschaft hat es getragen.

Waren Sie damals eine Protestsängerin?

Ich war trotz meiner 40 Jahre in gewisser Weise naiv, und ich habe mich nicht unbedingt als Protestsängerin gesehen, damals, denn die Lieder die ich gesungen hatte, stammten von anderen. Von Sängern, die im Gegensatz zu mir echte Protestsänger waren. Die Militärs haben da aber keinen Unterschied gemacht: Samba und Unterhaltungsmusik – damit hatten sie keine Probleme. Wenn sie damals herausbekommen hätten, dass ich tatsächlich Kontakte, wenngleich nur freundschaftliche, zum Untergrund gepflegt hatte, hätten sie mich vermutlich umgebracht.

Bob Dylan wurde früher auch als Protestsänger bezeichnet, dabei war das nur eine kurze Phase in seiner Karriere.

Das sind nur Etiketten. Wer sich für ein Leben als Musiker oder Sänger entscheidet mit all seinen Implikationen, entscheidet sich für ein Leben als Künstler. Man ist Hoffnungsträger oder Protestler, Feind oder Persona non grata – je nach Blickwinkel und Perspektive. Aber Dylan und ich, das sind auch aus anderen Gründen zwei verschiedene Welten. Zum einen ist er Nordamerikaner und ich bin Lateinamerikanerin. Zum anderen war ich nie Punk, Dylans Werk aber ist von einem Punkverständnis durchdrungen.

Da es unmöglich ist, in einem Land wie Argentinien das ganze Elend, die Verarmung, das Leid nicht zu sehen, ist es vielleicht auch eine Frage des Anstandes, sich nicht mit bürgerlichen Grabenkämpfen wie Punk oder nicht Punk auseinanderzusetzen. Ich beneide die Nordamerikaner ein wenig um diesen Luxus, denn auf künstlerischer Seite hat er immerhin zu einigen der schönsten Werke des 20. Jahrhunderts geführt. Das Traurige ist, dass es heute nicht besser ist als früher. Wir haben zwar keine Diktatur mehr, aber die Weltbank zerstört unser Land gründlicher als es ungebildete Militärs je hätten erträumen können.

Setzen Sie noch Hoffnung in die Politik?

Ich sehe stabile politische Systeme, in denen es den Menschen halbwegs gut geht, und ich sehe korrupte, ausbeuterische Systeme, in denen es zwei Lager gibt: die Verlierer und die Gewinnler. Ich traue keinem Politiker, denn fast jeder Mensch ist käuflich. Ich bin aber auch nicht so dumm zu sagen: Tolle Sache, eure Demokratien, super! Systeme wie das Nordamerikas beuten den Rest der Welt aus. Schön, wenn es den nordamerikanischen Kindern gut geht. Wahrscheinlich muss man es buddhistisch sehen und sagen: So ist die Welt. Aber das fällt mir schwer.

Redete man in den Siebzigern von lateinamerikanischer Musik, war klar, dass man eine politisch motivierte Protestmusik meinte. Heute gibt es den Buena Vista Social Club als exotische Hintergrundmusik, die sich ihrer politischen Komponenten entledigt hat.

Das sind die Zeiten, in denen wir leben. Ricky Martin oder die gerissenen alten Herren vom Buena Vista Social Club erfüllen ein Bedürfnis nach Latin-Exotik und heiler Welt, das natürlich von einer politischen Musik kaum bedient werden kann. Aber warum eigentlich nicht? Ich mag die Stimme von Julio Iglesias – bin ich deswegen ein schlechter Mensch oder oberflächlich?

Ich glaube außerdem, dass es nicht notwendigerweise des politischen Liedes bedarf, um einen politischen Diskurs zu führen. Vielleicht war das alles auch nur eine Mode der Siebziger? Ich will nicht den Eindruck erwecken, ich wäre müde geworden, aber die Zeiten ändern sich. Ich habe nicht den Eindruck, dass es allgemein weniger Interesse an der Politik gibt. Es gibt lediglich in der westlichen Welt ein geringeres Interesse, weil viele Dinge, für die man gekämpft hat, in irgendwelchen Kompromissen halbwegs akzeptabel durchgesetzt worden sind.

Mit anderen Worten: Heute hat Lateinamerika die gleichen Probleme wie viele andere Länder auch. Die Militärdiktatur war sicherlich für viele Menschen im Westen auch eine Art leichte Möglichkeit, Position zu beziehen. Gegen die Weltbank kann man ja sein, wie die Unruhen von Seattle zeigen – aber muss man deswegen gleich Lieder gegen den internationalen Währungsfonds singen?

INTERVIEW: MAX DAX