Sonnenwandern auf der Insel

Gran Canaria ist mehr als nur Titelgeber für deutsches Schlagergut. Die Insel lädt außerhalb der Touristenhochburgen zum Wandern, Essen und Schauen ein – in aller Schönheit wie Hässlichkeit

von REINHARD KUNTZKE

Man spricht kein Deutsch in Triana, der Altstadt von Las Palmas. Bis auf einige Zahlwörter – „El café cuesta fünfundsiebzig pesetas, Señor“ – beherrscht Jorge, der Kellner im Hotel „Madrid“, kein Wort der Sprache der Touristen, die zu Hunderttausenden jedes Jahr über Gran Canaria herfallen. Aber die verirren sich höchst selten in das frühere Kaufmannsviertel der Inselhauptstadt.

Das Hotel an der palmengesäumten Plaza de Cairasco symbolisiert ein Stück Zeitgeschichte. Vor dem spanischen Bürgerkrieg war das Café des Hauses ein beliebter Treffpunkt der Intellektuellen und Künstler. Noch heute hängen die Fotos der damaligen Gäste an den holzvertäfelten Wänden der Bar, deren Mobiliar fast unverändert die Jahre überdauert hat. Die Betten im Hotel „Madrid“ knarren und quietschen seit Francos Zeiten. Im Zimmer Nr. 3 soll der General den Putsch gegen das republikanische Spanien vorbereitet haben.

Das prächtige Gebäude im kolonialen Stil müsste dringend saniert werden. Überall hängen ungesicherte Stromkabel, die Treppenstufen sind ausgetreten, und die Bodenfliesen im großen Patio wackeln vor sich hin. Baden mehr als zwei Gäste gleichzeitig, tröpfelt das warme Wasser nur noch mühsam aus der Dusche. Aber das Hotel ist billig: 5.500 Peseten – umgerechnet 65 Mark – kostet das Doppelzimmer. Und es liegt günstig. Durch die Fußgängerzone der Calle Mayor de Triana, der stets belebten Einkaufsstraße des Viertels, sind es keine 15 Minuten zum Parque de San Telmo. Dort starten die Inselbusse nach Playa del Inglés und Maspalomas, den touristischen Hochburgen an der Südküste. Aber auch in die Berge Gran Canarias.

Das öffentliche Nahverkehrssystem ist gut und preiswert. In jede Stadt, jedes Dorf fahren die beiden Busgesellschaften, die sich die Insel aufgeteilt haben. Die grünen Salcai-Busse bedienen den Inselsüden, die blauorangefarbenen der Utinsa den Norden. Mit 80 km/h brettert der Bus der Linie Nr. 305 den Barranco de Guiniguada hinauf. Die einst tiefe Schlucht wurde aufgeschüttet und zur Ausfallstraße ausgebaut. Schier endlos ziehen sich die Wohnsilos der Vorstädte die Hänge entlang. Manche erst halb fertig, andere bereits halb zerstört. Wie ein Krake hat Las Palmas, mit gut 400.000 Einwohnern die siebtgrößte Stadt Spaniens, das Land besetzt. Die autopista zerschneidet brutal die Bergflanken und lässt erodierte Hügel und braungraue Brachen zurück. Dazwischen grünen winzige Inseln aus Bananenstauden, die mit stumpfschmutzigen Plastikplanen gegen die Nachtkälte abgedeckt sind. Gran Canaria kann sehr hässlich sein.

Je höher der Bus klettert, desto niedriger werden die Häuser. Wer es sich leisten kann, hat seine Villa in den Landstädtchen Tafira oder Santa Brigida erbaut. In Las Palmas noch vollbesetzt, leert sich der Linienbus allmählich. Im letzten Dorf vor der Passhöhe sitzen nur noch zwei junge Frauen mit im Bus, die an den Rucksäcken und den festen Schuhen leicht als Wanderinnen zu erkennen sind.

Oben am Cruz de Tejeda, auf knapp 1.500 Metern über dem Meer, bläst ein frischer Wind. Oft hüllen die dicken Wolken des Passats den Pass wie in feuchte Watte ein. Den kurzbehosten Strandurlaubern, die in klimatisierten Luxusbussen heraufgekarrt wurden, ist es viel zu kalt. Ein kurzer Blick zu den Souvenirständen am Straßenrand, dann verschwinden sie in die Bar des Hotels „El Refugio“. Vergebens warten die vier kanarischen Bauern mit ihren Eseln auf Kundschaft für einen schnellen Ausritt. Zweihundert Meter hinter der Straßenkreuzung beginnt der Wanderweg.

Seit ein paar Jahren hat die Inselregierung den Wandertourismus entdeckt. Mit EU-Geldern zur Förderung strukturschwacher Regionen wurden einige der uralten Bergpfade wieder in Stand gesetzt. Ein turismo rural, ein sanfter „ländlicher“ Tourismus zum Wohl der Landbevölkerung soll entwickelt werden.

Es waren die Guanchen, die Ureinwohner der Insel, die als erste Wege durch die zerklüftete Landschaft anlegten. Nach der spanischen conquista wurden viele Pfade kunstvoll mit Steinen befestigt, um den Bauern des Inselinneren sichere Transportwege zu den Märkten an der Küste zu schaffen. Da die spanische Krone den Wegebau finanzierte, sprach man von caminos reales, königlichen Wegen. Mit dem Beginn des Tourismusbooms in den Sechziger- und Siebzigerjahren änderte sich die Wirtschaftsstruktur Gran Canarias grundlegend. Die Jugendlichen zogen aus den Dörfern in die Städte und Ferienorte, um sich als Bauarbeiter, Kellner oder Zimmermädchen zu verdingen. Nur noch fünf Prozent der Erwerbstätigen sind derzeit in der Landwirtschaft beschäftigt. Die alten Wege hatten keine Funktion mehr und verfielen.

Dank der Restaurierung der Königswege existiert heute auf Gran Canaria ein Wanderstreckennetz von über 300 Kilometern. Aber anders als in den Alpen sind die Pfade kaum markiert. Hinweistafeln mit Orts- und Streckenangaben sind Mangelware. Ein gedruckter Führer ist unerlässlich.

Die erste Strecke führt steil und schweißtreibend nach oben. Im Süden ragt der Pico de las Nieves auf, gen Norden flimmert in der Ferne die Hochhauskulisse von Las Palmas am Meer. Gran Canaria kann sehr schön sein. Dann geht es fast nur noch bergab. Glitschig führt der Pfad durch dichten Kiefernwald talwärts. Aus den Passatwolken filtern die Kiefern die Feuchtigkeit heraus. Der Tau kondensiert an den Nadeln der Bäume und tropft als Wasser zu Boden. Früher bedeckte der Wald alle Höhen. Jahrhundertelanger Raubbau ließ den Bestand auf zwanzig Prozent der einstigen Größe schrumpfen, mit fatalen Folgen für den begrenzten Wasserhaushalt der Insel.

Auf halber Strecke, nach zwei Stunden, verspricht der Wanderführer im Dorf Lanzarote eine Einkehrmöglichkeit. Es sei die einzige auf der gesamten Tour. Aber die Bar „El Lomo“ hat geschlossen. Statt des erhofften café con leche gibt es aus dem kleinen Krämerladen gegenüber eine Hand voll Bananen.

Seit Ende des 19. Jahrhunderts wird die aromatische, kleinwüchsige Sorte Dwarf Cavendish auf Gran Canaria angebaut. Aber die kanarischen Bauern hatten es nie leicht mit der mittelamerikanischen Frucht. Die Bananenplantagen brauchen eine Unmenge Wasser, ein kostbares Gut auf der trockenen Insel. Zudem laugt der Anbau die Böden aus. Teurer Kunstdünger wird eingesetzt, der das knappe Grundwasser mit Nitraten belastet. Und obendrein kann die Konkurrenz aus der Karibik viel billiger produzieren. Noch schützen Handelsbarrieren der EU die kanarischen Zwergbananen, aber die Subventionen werden von Jahr zu Jahr geringer. So ist die Bananenproduktion in den letzten Jahren um rund vierzig Prozent zurückgegangen.

Hinter dem Dorf führt der Wanderweg serpentinenreich in den Barranco del Charqillo Madrelagua hinab. Das Tal ist ein grünes Refugium. Zwischen Zitronenhainen wachsen Lorbeer-, Feigen- und Eukalyptusbäume, den Talgrund bedecken Schilfrohr und Opuntien, an den Hängen rankt die zart orange blühende Kanarische Glockenblume. Kläffende Hunde bewachen die kleinen Grundstücke, auf denen Kartoffeln und Gemüse angebaut werden. In Las Rosadas, dreieinhalb Stunden vom Cruz de Tejeda entfernt und 700 Höhenmeter tiefer, ist der Wanderpfad zu Ende. Die letzten drei Kilometer nach Teror müssen auf hartem Asphalt zurückgelegt werden.

Die kleine Stadt ist das religiöse Zentrum der Insel. Hirten soll sich die Jungfrau Maria zwischen den Ästen einer Kiefer gezeigt haben. Eine Kapelle, später eine Basilika, wurde an der Stelle errichtet, um die sich das Landstädtchen entwickelte. Jedes Jahr am 8. September, dem Jahrestag der Erscheinung, tragen Tausende gläubiger Kanarier die Statue von Nuestra Señora del Pino durch die Straßen.

Mit laufendem Motor wartet an der Busstation der Utinsa-Bus Nr. 305 nach Las Palmas. Keine anderthalb Stunden später umspülen die Wellen der Playa de las Canteras die müden Wanderfüße. Wie eine Sichel zieht sich der Stadtstrand von Las Palmas drei Kilometer an der Skyline der Hochhäuser entlang. Von hier ging die touristische Entwicklung Gran Canarias aus.

In den späten Fünfzigerjahren, als die zweimotorigen Charterflugzeuge von Deutschland noch 16 Stunden bis zur Insel brauchten, entstand am Küstenstreifen ein Hotel neben dem anderen. Aber schon bald verlagerte sich das touristische Treiben in den Inselsüden. Playa del Inglés und Maspalomas garantieren mehr Sonnenstunden als die Hauptstadt. Von den über zwanzig Hotels an der Strandpromenade von Las Palmas haben gerade einmal vier überlebt. Aus den anderen Unterkünften sind Sozialwohnungen und Privatappartements geworden.

Seit ein paar Jahren erlebt die Playa de las Canteras eine Renaissance. Mit mehreren Milliarden Peseten aus EU-Mitteln wurde die einst marode Uferpromenade saniert und verlängert. In die früher versifften Umkleidekabinen, Duschen und Toiletten kann man sich wieder hineintrauen. Neu gepflanzte Palmen geben dem Strand karibisches Flair. Jetzt schieben sich am Wochenende die Menschen wieder die Promenade entlang. Restaurants und Bars sind überfüllt, und am Strand ist kaum ein freies Plätzchen zu ergattern. Aber anders als die Strände im Süden ist die Playa de las Canteras fest in spanischer Hand. Die großen deutschen Reiseveranstalter – ob TUI oder Neckermann – schicken nur wenige Urlauber an den Stadtstrand von Las Palmas.

Rau tost das Meer gegen die Felsen vor dem Restaurant „La Marinera“, das vielleicht bald schon wieder anders heißt. Alle paar Monate wechseln die Pächter und mithin der Name. Die Terrasse des Restaurants an der Punta de Arrecife, dem äußersten Nordzipfel der Playa, ist gegen 18 Uhr noch leer. Spanier gehen erst viel später essen. Im Weinkühler neben dem gedeckten Tisch steht eine Flasche Malvasia Seco. Der fruchtige Weißwein von der Nachbarinsel Lanzarote passt gut zum fangfrischen Thunfischfilet mit den papas arrugadas, kanarischen Schrumpfkartoffeln in der Salzkruste. Am Horizont zeichnet sich Teneriffa ab, und glutrot versinkt die Sonne zwischen den Wolken. Gran Canaria kann sehr romantisch sein.

Lesetipps:Ein zuverlässiger allgemeiner Reiseführer ist „Gran Canaria“ von Rolf Goetz, Peter Meyer Verlag, Frankfurt/M. 1999, 32,80 DM, der auch zehn Wandertouren enthält. 35 Wanderungen schlägt Dieter Schulze im Band „Wandern auf Gran Canaria“ vor, DuMont aktiv, Köln 1999, 19,90 DM.Weitere Wandervorschläge sind auf den deutschsprachigen Seiten derkanarischen Busgesellschaftwww.salcai.es/de/rutas/index.htm