„Unternimm dich selbst!“

Mit Michel Foucault gegen den Neoliberalismus: Governmentality Studies untersuchen Regierungstechniken in postsozialen Verhältnissen und erklären den Staat zum bloßen Effekt. Eine erste deutsche Anthologie zu der jungen Forschungsdisziplin

von RENÉ AGUIGAH

Eine neue Kritik der politischen Vernunft: nichts weniger verspricht dieser Diskurs. Er kommt aus Frankreich, hat sich seit einigen Jahren in Großbritannien, Amerika und Australien gestärkt und schwappt allmählich zurück nach Europa. Um sich im Stimmengewirr der Sozialwissenschaften zu etablieren, hat er sich einen Namen zugelegt – Governmentality Studies – und eine Genealogie: Michel Foucault ist sein Ahnherr, die am häufigsten zitierten Arbeiten stammen von dessen unmittelbaren Schülern. Ironie der Wissenschaftsgeschichte – der Name des Autors, der in jeder Hinsicht versucht hat sich zu ent-disziplinieren, fungiert heute als Gründungsurkunde einer in die Institutionen drängenden Denkschule.

Natürlich verdankt sich der Neuigkeitswert, den die Governmentality Studies für sich reklamieren, auch der bloßen Etikettierungswut im Kokurrenzkampf der akademischen Betriebe. Aber tatsächlich bietet der Ansatz zwei Perspektivenwechsel an, die Beachtung verdienen. Erstens trifft er auf eine Foucault-Philologie, die hartnäckig die ewig selben Fragen diskutiert („Und er hat wirklich behauptet, der Mensch ist tot?“) und das Werk des Franzosen in drei mehr oder weniger separate Phasen eingeschnürt hat. Dagegen betonen die Governmentality Studies – wenn schon, denn schon – Phase zweieinhalb: die späten 70er-, frühen 80er-Jahre, als Foucault seine Machtanalytik der Selbstkritik unterzog und zu einem allgemeinen Konzept der Regierung ausbaute. Nebenbei attackieren sie so einen Einwand wie den Richard Rortys, Foucaults Denken glänze, was „harte“ sozioökonomische Probleme betreffe, durch Indifferenz.

Daraus folgt der zweite, interessantere Aspekt: Die Governmentality Studies bringen Foucault gegen den Neoliberalismus in Anschlag. Dessen Rationalität wollen sie nicht bloß theoretisch beschreiben, sondern sie betonen ihre „politisch-kritischen Perspektiven“ – zumindest in der Spielart, die der Wuppertaler Sozialwissenschaftler Thomas Lemke kürzlich in der Politischen Vierteljahresschrift skizziert hat.

Suggestiv und produktiv

Jetzt hat Lemke gemeinsam mit Susanne Krasmann und Ulrich Bröckling einen Band herausgegeben, der den jungen Forschungsansatz in deutscher Sprache erstmals ausführlich entfaltet. „Gouvernementalität der Gegenwart“ versammelt acht Untersuchungen – über den „schlanken Staat“, über die Disney-Kultur und aktuelle Debatten um die Gentechnologie. Ihr gemeinsamer Horizont ist der Regierungsbegriff, den die Herausgeber aus Foucaults verstreuten, zum Teil noch unveröffentlichten Schriften rekonstruieren. Der einschlägige Schlüsseltext ist allerdings schon lange bekannt: eine Vorlesung von 1978, die die taz 1989 in Auszügen übersetzt hat; ungekürzt findet er sich nun in dem Sammelband.

La gouvernementalité: Die Suggestivkraft bezieht das Wort aus seiner Morphologie, seine Produktivität aus der Semantik. In ihm verschmelzen „Regieren“ (gouverner) und „Denkweise“ (mentalité). Es bezeichnet das Ensemble von Apparaten, Institutionen, Verfahren, Reflexionen, Taktiken etc., die es erlauben, zu regieren. In dem politisch-epistemologischen Raum, den die Gouvernementalität konstituiert, ist jedes Wissen zuerst politisches Wissen, jede Ökonomie stets politische Ökonomie. In diesem Raum Menschen zu „führen“, das meint Regierung.

Diesen Begriff richtet Foucault speziell zu: Nach außen grenzt er ihn von anderen Machttypen ab – Souveränität und Disziplin –, denn die Regierung zielt nicht auf Untertanen und Territorien, sondern auf Individuen und Bevölkerungen. Und nach innen weitet er ihn aus – „Regierung der Kinder, Regierung der Seelen oder Gewissen, Regierung eines Hauses, eines Staates oder des eigenen Selbst“ –, er umfasst sowohl Herrschafts- als auch Selbsttechnologien.

Wo bleibt da der Staat? Er ist Foucaults striktem Nominalismus zum Opfer gefallen, nicht tot, sondern eingebettet in das Kontinuum der Regierungen: „Der Staat ist keine Universalie; der Staat ist keine an sich autonome Quelle der Macht; der Staat ist nichts anderes als die Tatsachen“ – ein Effekt der Gouvernementalität. So löst Foucault das politische Denken von der einen (anti-)etatistische Achse, die sich dem Betrachter noch heute darbietet: Weniger Staat!, fordern die Neoliberalen, bis sie heiser sind; mehr Staat!, schallt es von deren Kritikern zurück, gleich, ob es sich dabei um das linke „Gegenfeuer“ des Soziologen Pierre Bourdieu oder um die restaurativen Pamphlete des Journalisten Jan Roß handelt.

Private Altersvorsorge und private Sicherheitsdienste werden installiert, Politiker appellieren beständig an die „Zivilgesellschaft“, die es schon richten werde mit dem Gesundheitswesen und den Skinheads: Was, wenn solche Reden und Rechtsformen nicht als Ende des Staates bedauert oder begrüßt würden, sondern man sie in der Immanenz der diversen Regierungstaktiken analysierte? Die governmentality studies dechiffrieren „den Rückzug des Staates“ bzw. „die Dominanz des Marktes“ selbst als ein politisches Programm“, schreiben Lemke, Krasmann und Bröckling in ihrer Einführung. „Nicht eine Abnahme staatlicher Souveränität und Planungskapazitäten, sondern eine Verschiebung von formellen zu informellen Formen der Regierung lässt sich beobachten.“ In den konkreten Studien taucht immer wieder der Unternehmer als prägende Gestalt der Gegenwart auf, oder genauer: der neoliberale Imperativ, zum Unternehmer seiner selbst zu werden. Diese Figur funktioniert in den Gouvernementalitäts-Analysen offensichtlich deshalb so gut, weil sie sich als Scharnier zwischen Selbst- und Herrschaftstechnologien benutzen lässt; das theoretische Kontinuum der Regierungen trifft auf seine empirische Entsprechung. Jedenfalls arbeiten nicht mehr nur Max-Leser an ihrer Fitness und dem schlanken Bauch, solche Desiderate gelten längst auch für kollektive Körper. Für Behörden, die wirtschaften müssen, für die Bundeswehr, die einzelne Aufgaben auslagert, für den Staat, der ein Standort ist.

Leitbild Ökonomie

Nikolas Rose, Soziologe in London, integriert die Figur des Unternehmers in eine allgemeine Skizze der „postsozialen“ Verhältnisse. Regierungstechniken, so seine These, beziehen sich gegenwärtig weniger auf eine Gesellschaft, die territorial abgegrenzt wäre, als auf überschaubare Gemeinschaften: Ökologen, Yuppies, Feministinnen, Behinderte. „Regieren durch Community“ nennt er diese Methode. Sie schafft nicht zuletzt neue Identitätsmuster für die Subjekte. Der sparsame Kirchgänger etwa funktioniert nicht mehr als Leitbild. Vielmehr werden den Regierten jenseits der hergebrachten Klassen- oder Geschlechtergegensätze individuelle Qualitäten abverlangt: Aktivität, Initiative, Eigenverantwortung, Risikokalkül, die Fähigkeit, sein Leben nach dem Vorbild der Ökonomie zu organisieren.

Nicht immer führt Rose seine Ausführungen auf den Begriff des Regierens zurück, nicht immer macht er deutlich, wo er sich von soziologischen Gemeinplätzen wie der „Individualisierung“ oder der „ausdifferenzierten Gesellschaft“ unterscheidet. Aber er liefert den Hintergrund, vor dem sich andere Beiträge wie detailliert durchgeführte Beispiele lesen. Henning Schmidt-Semisch beschreibt, wie sich die sozialstaatliche Pflicht zur Vorsorge allmählich auf die Versicherten verlagert, und zwar, indem deren Individualrisiken mit verrechnet werden. „Der Arbeitsunwillige“, der Raucher, der Übergewichtige (und viele mehr), sie alle werden tendenziell zu Präventionsverweigerern, die ihre unnötigen, weil vermeidbaren Schäden selbst verursacht haben, und damit schließlich zu (Sozial-)Versicherungsbetrügern.“ Und Ulrich Bröckling trifft in Managementkonzepten auf das Leitbild des Unternehmers Firmen beugen sich auf allen Ebenen dem „zwanglosen Zwang der besseren Qualität“, und die Manager selbst arbeitet daran, „sich gut zu verkaufen“.

Für seine Analyse hat Bröckling Ratgeberliteratur durchforstet: Programme, keine Praktiken. Auch wenn diese Ziele nicht immer umgesetzt werden, so Bröckling, entfalten sie doch durch ihre Unabschließbarkeit die gewünschte Wirkung. Sie garantieren, dass es „ein Genug – an Qualität, Flexibilität, Motivation, persönlichem Wachstum – nicht geben kann“; es entsteht der „Sog zum permanenten Mehr“. Dieses Argument rettet allerdings nicht in jedem Beitrag die zum Teil einseitige Konzentration auf programmatische Texte. Aldo Legnaro hat einen Reiseführer zum Disneyland interpretiert – und schließt von dessen Vorschlägen ohne viele Umstände auf Formen von Subjektivität, die der Erlebnispark produziere. Sicher erfährt man eine Menge über „Birnbaum's Walt Disney World“ und das absurde Spaßdiktat dieses Buches, aber fast nichts über die Subjektivierungsprozesse jener Individuen, die tatsächlich durch die hyperrealen Landschaften des Disney-Konzerns stapfen. Ob sich die Konsumenten dem Führer unterwerfen oder nicht, was ihre Künste des Handelns bewirken, unterschlägt Legnaro. Sein Beitrag ist nicht der einzige, der dazu neigt, die Differenz zwischen erklärten Absichten und gelebten Praktiken zu vernachlässigen. Dass die Herausgeber dieses Problem selbst andeuten, macht es nicht besser. Unverständlich bleibt auch, warum die Autoren – bei aller Akribie der einzelnen Studien – bis zum Schluss verheimlichen, was sie genau unter Neoliberalismus verstehen. Die deutschen Ordoliberalen der Nachkriegszeit, die Foucault noch selbst untersucht hat? Ronald Reagans Kunst, die Staatsquote zu senken? Clintons Jobwunder? New Economy? Alles zusammen? Neoliberalismus, das bleibt in dem Band ein diffuser Kampfbegriff.

Neue Waffen: Davon träumte Gilles Deleuze nach Foucaults Tod, um die „Freuden des Marketings anzugreifen“. Denn das Modell des Unternehmens hat die alte Fabrik abgelöst, permanente Weiterbildung ist an die Stelle der Schule getreten, und das elektronische Halsband hat das Gefängnis ersetzt, stellte er fest. Zehn Jahre ist das her. Natürlich zählt dieser Essay über die „Kontrollgesellschaften“ zu den liebsten Referenzen der Governmentality Studies. Ob sie aber Deleuze' Hoffnung auf ebenso präzise wie widerständige Instrumente näher kommen, ist noch ungewiss.

Ulrich Bröckling, Susanne Krasmann, Thomas Lemke (Hrsg.): „Gouvernementalität der Gegenwart. Studien zur Ökonomisierung des Sozialen“, Suhrkamp Verlag, Frankfurt a. M. 2000, 315 Seiten, 21,90 DM