Die Parteien im Netz

Digitale Demokratie (1): Ein Blick hinter die HTML-Fassaden der Parteien zeigt, dass die Arbeit im Cyberspace auf die innerparteiliche Struktur und Diskussionskultur einwirkt

„Drin!“ Nach Harald Schmidt, Boris Becker und anderen Online-Apologeten stimmen auch Deutschlands Politiker in den Chor der Vernetzten ein: Die Christdemokraten surfen unter www.cdu.de schon lange „Mitten im Leben“ und knüpfen seit kurzem an einem digitalen „Netz gegen Gewalt“. Die Regierungspartei leitet antirassistische „Netz-Konter“ ein und holt Franz Müntefering in den „General-Chat“. Die PDS beteiligt sich mit virtuellen Buttons am Nazibann im Internet. Neben den vielen digitalen Sommerkampagnen gegen den braunen Sumpf im Cyberspace verweisen nicht nur die Vorbereitungen auf den virtuellen Landesparteitag der Grünen in Baden-Württemberg auf die Normalisierung im Netz. In Bayern pflegt Edmund Stoiber enge Beziehungen zu den Musterknaben und -mädchen der Start-up-Szene. Und liberale Rednerpulte mit dem grellgelben „www.fdp.de“-Schriftzug fungieren schon lange als Querverweis zur Online-Plattform der Partei für acht- bis achtzehnprozentige.

Politik gehört also offenbar zum Internet wie die Kuppel auf den Reichstag. Das war nicht immer so. Doch im Trial-and-Error-Verfahren haben sich Politiker und Parteien in den letzten Jahren die Grundlagen der Online-Kommunikation angeeignet: Die nicht selten belächelten Online-Angebote von Parteien und Volksvertretern haben sich oft zu stattlichen Politik-Portalen entwickelt, die einer interessierten und involvierten Netzbürgerschaft durchaus gute Einstiege in die politische Netzwelt ermöglichen. Von einer flächendeckenden „Digitalisierung der Politik“ kann zwar noch keine Rede sein, doch die Renovierung politischer Routinen und Rituale durch das Internet ist weder zu übersehen noch aufzuhalten.

Ein Blick hinter die glänzenden HTML-Fassaden der digitalen Parteizentralen zeigt, dass sich die Mühen im Cyberspace allmählich auch auf innerparteiliche Organisationsstruktur und Diskussonskultur auswirken. Für viele unerwartet hatten die vor allem auf Außenwirkung zielenden Online-Auftritte der Parteien immense Folgen für die organisationsinterne Politikproduktion. Und dies gilt nicht nur für die Auseinandersetzung mit dem Internet als politischem Modethema: Angesichts allgemeiner Politikmüdigkeit hat der Diskurs um politische Beteiligung an neuer Dynamik gewonnen. Betroffen sind von diesem „Backlash“ vor allem solche Bereiche des Parteialltags, die bislang eher im Verborgenen geschahen: Kommunikations- und Entscheidungsprozesse innerhalb der Organisation sowie die inhaltsbezogene Parteiarbeit, etwa im Rahmen von Programmdiskussionen.

Große Bedeutung für eine moderne Binnenkommunikation haben für die Volksparteien bereits jetzt die „Mitgliedernetze“. Mit dem Aufbau leistungsfähiger Intranets sollte zwar eigentlich vor allem der Informationsfluss auf der Funktionärsebene verbessert werden. Doch wird immer deutlicher, dass ein Zugang für „einfache“ Parteimitglieder schon bald zum Standardservice gehören wird. Denn wo sonst liegt eine Abgrenzungsmöglichkeit gegenüber den flexiblen Netzbürgern, die sich ohne Mitgliedsausweis über das Internetangebot in die Parteiarbeit einklinken wollen? Noch steht bei den Parteien das Intranet im Schatten des großen, glamourösen Bruders Internet. Dass aber die stille Effizienz einer dichten Vernetzung innerhalb der eigenen Organisation in Wahlkampfzeiten wertvolle Arbeit leisten kann, zeigen die Ereignisse in den USA, wo in den digitalen Hinterzimmern ein erfolgreicher Internetwahlkampf geführt wurde.

Dort haben die beiden „Killer-Applikationen“ der Vorwahlkampfzeit – „Online-Fundraising“ und „Voter-Targeting“ für Furore gesorgt. Die digitale Spendenabgabe orientiert sich technisch am Online-Shopping: Es genügt meist die Angabe der Kreditkartennummer, um die Spendensumme digital zu transferieren. Das „Voter-Targeting“ wiederum ist die gezielte Wähleransprache durch personalisierte Kommunikationsdienste; die Adressdateien werden aufgebaut, indem vielfältige Möglichkeiten zur persönlichen Online-Registrierung geschaffen werden – etwa als aktiver Wahlhelfer, bei der Spendenabgabe oder beim Abonnieren eines E-Mail-Newsletters. Stets werden die Online-Nutzer um die Angabe sensibler Personendaten ersucht, die sogleich in das „back office“ der Kandidaten-Websites weitergeleitet werden.

Immerhin werden dabei basale Regeln des E-Business beherzigt: In den meisten Formularen kann auch eine Weiterverwendung der Personendaten untersagt werden. Aber auch der Nachteil des politisch gewendeten E-Business beginnt sich in den USA zu zeigen: Wurden die Internetbenutzer im Wahlkampf vor vier Jahren noch als Bürger angesprochen, so werden sie jetzt vermehrt zum Kunden reduziert, der nicht mehr auf themenorientierten Dialog hoffen darf, sondern sich aufdringlichen Werbebroschüren und elektronischen Spendenaufrufen ausgesetzt sieht.

Wollen Politiker und Parteien das Internet nutzen, dann ist allerdings Medienkompetenz nötig – auf allen Machtebenen. Und die fehlt in Deutschland bisher häufig. Wichtige Schulungsdienste leisten jedoch die zunehmenden „Realkontakte“ von Politikern mit der Computerwelt. Denn im Zeitalter des Klammeraffen wirken ungelenk hin- und hergeschobene Mäuse, unsichere Doppelklicks oder zaghafte Tastaturberührungen alles andere als vertrauenserweckend auf die Netzgemeinde.

Spannend erscheint ein Projekt der baden-württembergischen Grünen: Für November hat der experimentierfreudige Landesverband einen „kleinen Parteitag“ im Internet angekündigt. Ein zweiwöchiges Forum diskutiert dort, öffentlich einsehbar, zwei Leitanträge. Das Rede- oder besser Schreibrecht verbleibt exklusiv bei den Mitgliedern des Landesverbandes, immerhin gut 7.500 Menschen. Nach jeweils einer Woche Online-Diskussion sollen dann etwa 100 Delegierte entscheiden. Zur Abstimmung wird eine Plattform verwendet, die nach den Regeln des E-Commerce für Sicherheit und Zuverlässigkeit sorgt. Die Stimmberechtigten erhalten zuvor per Post einen Zugangscode für die Wahlsoftware. Das Beispiel zeigt sehr anschaulich die Einsatzmöglichkeiten der Online-Kommunikation auch für eine inhaltsorientierte Parteiarbeit, die über die bloße Verbesserung der Kommunikationswege hinausgeht. Auch hierzu gehört eine gehörige Portion Courage, denn natürlich bergen solche Experimente Risiken sowohl technischer wie auch „nutzungskultureller“ Natur.

Und auch Franz Müntefering hat noch lange nicht verloren, obwohl seine Reformbemühungen selbst im eigenen Landesverband einen empfindlichen Dämpfer erhalten haben. Der von ihm bereits im April vorgestellte Entwurf einer „digitalen Partei“ enthält aber bereits einige Konturen, die vor den nächsten größeren Wahlkämpfen klarer werden dürften. Das vorerst gescheiterte Reformkonzept trägt der dynamischen Entwicklung des virtuellen Ortsvereins (www.vov.de) Rechnung – einer neuen Organisationsstruktur der Partei, die die klassische regionale Gruppierung der Bürokratie aktualisiert und in die neue Medienumgebung übersetzt.

Der VOV nutzt die Methoden der Online-Kommunikation; Versammlungen, Diskussionen und Abstimmungen finden im Internet statt. Dabei verliert sich die lokale und regionale Bindungsstruktur herkömmlicher Parteigliederungen im Datenraum: Die Mitglieder beteiligen sich online stärker themen- als ortsbezogen. Das Modell hat schnell Nachahmer gefunden – etwa den Internetlandesverband der FDP. Von der Öffnung ihrer Organisationsstruktur in Richtung Datenraum versprechen sich die Volksparteien neben Modernitätsbonus und inhaltlichen Impulsen den Zugriff auf Nachwuchskräfte oder Quereinsteiger. Die einschlägigen Formeln hießen bei der SPD „30 unter 40“ oder „Zehn von Außen“. Die digitalen Liberalen bezeichnen sich forsch als die „politische Heimat der Generation @“.

Die Schwierigkeiten des SPD-Generalsekretärs, die Modernisierungsideen gegenüber der eigenen Basis durchzusetzen, oder das gewiss zwiespältige Echo auf das Grünen-Experiment, sind jedoch nur Vorboten eines langen und schmerzhaften Erneuerungsprozesses der alten Mitgliederparteien. Die verschiedenen Facetten der politischen Online-Kommunikation – ganz gleich ob das glitzernd-glamouröse Internet, das nüchtern-effiziente Intranet oder die vermeintliche unüberschaubare offene Diskussion mit Parteibasis und Netzbürgerschaft – werden die Politik weit in das neue Jahrhundert hinein begleiten. Und erst nach ein paar Jahren wird sich zeigen, welche Parteien sich tatsächlich gegen den Millennium-Bug gewappnet haben.

CHRISTOPH BIEBER

Hinweise:Große Bedeutung für eine moderne Binnenkommunikation haben zukünftig die „Mitgliedernetze“Die Grünen in Baden-Württemberg haben für November einen kleinen Parteitag im Internet angekündigt