Argentiniens Regierung in der Krise

Nach dem Rücktritt des Vizepräsidenten Carlos Alvarez steht die Koalition unter Präsident de la Rúa vor dem Bruch

BUENOS AIRES taz ■ Argentiniens Regierung steckt in einer tiefen Krise. Am Freitag trat Vizepräsident Carlos „Chacho“ Alvarez zurück. Der schwer angeschlagene Präsident Fernando de la Rúa steht allein da, vor ihm ein Scherbenhaufen politischer Fehlentscheidungen. Das Regierungsbündnis Alianza aus der Radikalen Bürgerunion (UCR) und dem Mitte-links-Block Frepaso ist gefährdet.

Eilig bemüht sich de la Rúa die Dinge herunterzuspielen: „Es gibt keine Krise“, sagte er am Samstag. Einen Tag nach dem Rücktritt von Alvarez empfängt de la Rúa demonstrativ argentinische Olympiateilnehmer und besucht Heime für Straßenkinder. Danach verabschiedete er sich ins Wochenende.

Nach zehn Monaten Regierung sind viele Wähler von de la Rúa enttäuscht. Die Arbeitslosigkeit liegt nach offiziellen Angaben bei 15 Prozent, die Wirtschaft stagniert, und Korruptionsgerüchte machen die Runde. Im Wahlkampf hat de la Rúa den sozialen und moralischen Wandel versprochen. Doch erreicht hat er bis heute wenig.

Seit Monaten plagt sich der Präsident damit, einen Korruptionsskandal im Senat zu beenden. Für ein Gesetz zur Flexibilisierung der Arbeit brauchte die Regierung die Zustimmung einiger Senatoren der peronistischen Opposition und bekam sie überraschenderweise auch – gegen Zahlung von 50.000 Dollar pro Person, wie behauptet wird. Die Aufklärungen verlaufen schleppend, bis heute bleibt der Fall ein Rätsel, während in Argentinien kaum jemand daran zweifelt, dass Gelder geflossen sind.

Alvarez hat die Allianz zwischen Frepaso und UCR aus der Taufe gehoben und war der Architekt des Wahlsieges von de la Rúa. Es war Alvarez, der sich in zehn Monaten Alianza-Regierung profilieren konnte, nicht de la Rúa. Alvarez hat ohne Rücksicht auf Verluste gesagt, was er dachte, nicht immer zur Freude seines Präsidenten. Vehement setzte er sich für die Aufklärung des Korruptionsskandals ein, und es war auch der temperamentvolle Alvarez, der der peronistischen Opposition die Stirn bieten konnte, während de la Rúa schüchtern im Hintergrund agierte. Eine Zeitschrift fragte der Titelseite: „Wann übernimmt Alvarez das Amt?“, und die Opposition forderte de la Rúa auf, Alvarez zu bremsen. Das tat er dann auch.

Am Donnerstag wechselte de la Rúa einige seiner Minister aus – und verschärfte damit die Krise: Der mit dem Korruptionsskandal im Senat in Verbindung gebrachte Arbeitsminister wurde zum Generalsektretär der Präsidentschaft befördert – er trat dann nach Alvarez’ Abgang selbst zurück. Und der wegen der Wirtschaftskrise unter Beschuss stehende Wirtschaftsminister behielt seinen Posten. Stattdessen wurde Justizminister Ricardo Gil Lavedra durch den Bruder des Präsidenten, Jorge de la Rúa, ersetzt. Bei Amtsantritt hatte der Präsident in einem Brief an Staatssekretäre und Minister gebeten, keine Familienmitglieder einzustellen, da dies dem Image der Regierung schaden könne.

Die Kabinettsumbildung sollte die Handlungsfähigkeit de la Rúas unter Beweis stellen – doch schon bei der Vereidigung der neuen Minister zeigten die Gesichtszüge von Vizepräsident Alvarez, dass er dem ganzen Polittheater wenig abgewinnen konnte. Einen Tag später, am Freitag, verkündete er seinen Rücktritt, da das Land nicht nur in einer politischen, sondern auch in einer moralischen Krise stecke.

INGO MALCHER