Medienkompetente Mörder

DAS SCHLAGLOCH von KLAUS KREIMEIER

„The medium is the message.“ (Marshall McLuhan)

Das Justizministerium spricht von Parallelen zum Linksterrorismus der RAF, das Innenministerium hingegen sieht keine Anzeichen organisierter Gewalt. Müntefering vermutet „Leute im Hintergrund“, dies seien zweifelsfrei „Leute im Anzug“, und Leute im Anzug müssten Leute in der NPD sein – ergo: NPD-Verbot. Ströbele glaubt nicht an zentrale Steuerung, wohl aber an gezielte Verunsicherung, ohne genau zu erklären, worin der Unterschied zu sehen sei. Ein Verbot der NPD hält er für falsch. Stefan Heym fordert diktatorische Mittel zur Unterdrückung des Rechtsextremismus, die Polizeigewerkschaft den Einsatz der Videoüberwachung für jüdische Einrichtungen. Thierse warnt davor, den Tätern mehr Aufmerksamkeit zu verschaffen, als sie und ihre Taten verdienen.

Von guten Ratschlägen schwirrt die Luft; jeder fordert den anderen auf, etwas zu tun – niemand aber gesteht offen ein, dass er hilflos sei. Der Verfassungsschutz sieht die „Gefahr der Herausbildung terroristischer Strukturen“: Die Formulierung ist so vage wie die Datenlage dünn. Keine demokratische Regierung dürfte damit eine Verschärfung der Gesetze, drakonischere Polizeimaßnahmen oder gar eine Ausweitung der Videobespitzelung der Bevölkerung legitimieren. Die von Beckstein aus politischem Kalkül („keine politische Kraft rechts von der CSU“) lancierte Diskussion über ein NPD-Verbot wird umso ingrimmiger geführt, je mehr sich die schmachvolle Einsicht ausbreitet, dass es ein probates Mittel gegen (antisemitische? rechtsextremistische?) Totschläger und Brandleger zur Zeit nicht gibt – und dass diese Einsicht vor der aufgestörten Bevölkerung geheim gehalten werden muss.

Die derzeit populären Aufforderungen an alle und jeden Einzelnen, jetzt aber lautstark und mit aller Kraft, Tag und Nacht und an jeglichem Ort, die richtige antifaschistische Gesinnung zu zeigen, sind nicht frei von Hysterie, die purer moralischer Aufwallung erliegt und zudem mit Selbstsuggestion einhergeht. Ein „Aufschrei“ solle durch das Volk gehen – wie soll das Volk das bloß machen? Die Ursachen bekämpfen! Ich kenne keinen engagierten Lehrer, der – selbst wenn er nur die Rahmenrichtlinien seines Unterrichts einhielte – nicht täglich an der Bekämpfung der Ursachen arbeitet. Der Hauptschullehrerin in Brandenburg wird erklärt, dass der Tätertypus – sozial beschädigt, von den Spätfolgen der DDR belastet – sich aus ihrer Klasse rekrutieren könnte. Entsetzt starrt sie auf die jungen Glatzköpfe, die vor ihr lärmen und rechtsradikale Sprüche klopfen. Am nächsten Tag fliegt ein Brandsatz gegen die Synagoge im piekfeinen Düsseldorf.

Thierse will die Aufmerksamkeit für die Täter eindämmen. In unserer Gesellschaft, in der längst ein allgemeines Gemetzel um Aufmerksamkeit im Gang ist, rührt er damit an einen zentralen Nerv des Problems. Vom Tätertypus, der die Synagogen in Düsseldorf und Berlin-Kreuzberg angegriffen, den Jüdischen Friedhof in Potsdam geschändet hat, wissen wir wenig, nahezu gar nichts. Was wir wissen, ist: Er ist feige, kommt in der Nacht, verschwindet in der Nacht – und er will, wie dumpf und „primitiv“ dieser Trieb auch sein mag, ein „Zeichen setzen“. Was er weiß, ist: dass es in dieser von ihrer Vergangenheit noch immer gepeinigten Gesellschaft keine dramatischeren Zeichen gibt, als Hasssymbole gegen die Symbole der Jüdischen Gemeinde zu setzen. Wir müssen auf solche Zeichen – wie klein der materielle Schaden immer sein mag – gequält, entsetzt, aufgewühlt reagieren. Und gerade weil der materielle Schaden so lächerlich geringfügig, das Symbol jedoch von überwältigender Ausstrahlung ist, kommt hier auf der Täterseite ein perfides Kalkül ins Spiel: minimaler Aufwand – überdimensionaler Effekt.

Was bewegt den Tätertypus, seine sinistren Zeichen zu setzen? Die Antwort ist von nachgerade erschütternder Simplizität: Er kann den Effekt seiner Tat am nächsten Tag in der „Tagesschau“ bestaunen. Er wird nicht bei Hans Meiser, nicht bei Bärbel Schäfer auftreten; er wird in keiner Gameshow um fünf Minuten Telepräsenz kämpfen; er ist zu feige, um Randale zu machen oder als Schläger im Fußballstadion (vielleicht) von einer TV-Kamera erfasst und zum „Hooligan“ geadelt zu werden. Was er in seiner Brandflasche hat, produziert eine weitaus nachhaltigere Wirkung und ist zugleich überaus bequem: Der Täter kann hinter seiner Tat verschwinden – die Tat selbst aber wirkt explosiv und löst unvermeidlich einen gesellschaftlichen Diskurs aus, der darauf angelegt ist, sich aus den unvermeidlichen Nachfolgetaten kontinuierlich zu regenerieren. Unsere „Aufregung“ ermuntere die Täter, so Thierse. Das ist richtig. Aber die Frage, ob wir individuell gelassen oder aufgeregt reagieren, ist vergleichsweise irrelevant angesichts eines Aufmerksamkeitsbetriebs, der inzwischen seine eigenen Gesetze entwickelt hat.

Vor Verallgemeinerungen sei gewarnt: Die Diskursanalyse oder die Theorie der Aufmerksamkeit in der „Mediengesellschaft“ kann nur einen Teil der Dynamik des Phänomens erklären, nicht seine Wurzeln und seinen im gesellschaftlichen Alltag gärenden Bodensatz. Aber sie geben eine ziemlich deprimierende Antwort auf Thierses Forderung, die Aufmerksamkeit von den Tätern abzuziehen. „Das Fernsehen“ oder „die Medien“ stellen eine gigantische Maschine zur Aufmerksamkeitserregung dar, die von Regierungen und Konzernen, aber auch von Gangstern, Abenteurern, Psychopathen und Zukurzgekommenen benutzt wird, um unseren Blick auf sich zu ziehen und unser Gehör zu erreichen. In dem Maße, wie ökonomische, soziale, politische Entwicklungen über die Individuen hinwegrollen und die Schwächeren zu Verlierern, die Verlierer zu Untoten degradieren, werden sich immer mehr Untote auf eine entsetzliche, in jedem Fall: aufmerksamkeitsheischende Art zur Wehr setzen und der Gesellschaft melden, dass es sie noch gibt.

Strukturiert sind die Aufmerksamkeitsmaschinen als bürgerliche Nachrichtenmedien – in einer Öffentlichkeit, die als bürgerliche nicht mehr funktioniert, aber den Anschein institutionell noch aufrecht erhält. In dieser heiklen Öffentlichkeit gelten zum Glück demokratische Spielregeln. Sie abzuschaffen käme dem Modell Stefan Heyms gleich: die Bedrohung der Demokratie mit Mitteln der Diktatur zu bekämpfen – also aus Angst vor dem Tod Selbstmord zu begehen.

Das Zensurverbot schützt auch jene, die die Bildwirkung der Medien benutzen und ausnutzen, um sich symbolträchtig selbst zu inszenieren. Es gibt eine Berichterstattungspflicht – auch dort, wo die Tat nichts anderes als die Berichterstattung zum Ziel hat. Die Aktionen der Täter, so beklemmend sie sein mögen, gleichen strukturell jeder anderen Aktion, mit der ein medientrainierter Politiker, ein eitler Sportler, ein frustrierter Popstar oder ein als Freiheitskämpfer getarnter Terrorist unsere Aufmerksamkeit begehrt. Und gerade dies: Ihre sehr weit gehende Anschlussfähigkeit an die Gesetzmäßigkeiten der Mediengesellschaft – macht diese Taten so fürchterlich.

Hinweise:Thierse will die Aufmerksamkeit für die Täter eindämmen. Er rührt damit an einen zentralen NervWas bewegt den Tätertypus? Er kann den Effekt seiner Tat in der „Tagesschau“ bestaunen