Gewagte Bilder und Kakophonie

■ Dem Fortschritt nicht nur in der Kunst verschrieben: Einblicke in die Filme des Dokumentar-Pioniers Dziga Vertov gibt eine kleine Reihe im Metropolis

„Ich – bin das Filmauge. Ich – bin das mechanische Auge. Ich – bin die Maschine, die euch die Welt so zeigt, wie nur ich sie zu sehen imstande bin. Von heute an befreie ich mich für immer von der menschlichen Unbeweglichkeit.“ So sehr Dziga Vertov in seinen programmatischen Schriften – hier in Majakowskis Zeitschrift LEF – die künstlerische Subjektivität betonte, so stark war seinen Filmen die Begeisterung für die Sache der Revolution anzumerken. Heute gilt Vertov, der zur ersten Generation sowjetischer Filmer gehörte, als einer der wichtigsten Avantgardisten des Dokumentarfilms, Der Mann mit der Kamera von 1929 als sein filmisches Manifest.

Nachdem letzterer inzwischen in einer Vertonung der Kinoki-DJs mehrere Male in Hamburg zu sehen war, widmet sich das Metropolis nun in einer kleinen Reihe vier weiteren Filmen Vertovs. Ein Sechstel der Erde, von Chris Marker zum besten Dokumentarfilm aller Zeiten gekürt, kontrastierte 1926 noch einmal das Alte – Bürgerkrieg, Hungersnöte – und das Neue – en-thusiastischen Aufbau, Elektrifizierung. Schon zu dieser Zeit, zwei Jahre nach dem Tod Lenins, war aber das Formexperiment in der Sowjetunion nicht mehr opportun, und so verlor Vertov seinen Job bei Sowfilm. Gefilmt hat er weiterhin, immer wieder stark kritisiert, später mehr ignoriert als verfolgt.

Als „reinste Filmsprache“ wollte Vertov seinen Film Das elfte Jahr (1928) verstanden wissen. Dort feierte er die Großbaustellen der Schwerindustrie, vor allem aber die Kollektivierung. Letztere übrigens suchte er mit der Gruppe Kinoki um seine Frau und Cutterin Elizaveta Svilova und seinen Bruder und Kameramann Michael Kaufman auch für das Filmen umzusetzen.

Mit Donbass Sinfonie/Enthusiasmus drehte die Gruppe 1931 den ersten sowjetischen Tonfilm. Endlich konnte Vertov seinen frühen Traum umsetzen, die Töne des modernen Alltags aufzuzeichnen. Beeinflusst von den italienischen Futuristen hatte Vertov, bevor er 1918 zum Film kam, in Moskauer Avantgarde-Zirkeln mit minimaler Sound-Montage experimentiert. In der sowjetischen Kritik fiel auch dieser – von Charlie Chaplin sehr bewunderte – Film durch: Man könne das „Katzengejammer“ nicht ertragen. Dabei hatte Vertov im Grunde eine Hymne auf die Erfüllung und Übererfüllung des Plansolls geschrieben, in der ArbeiterInnen, Kohle und Stahl stellenweise zu tanzen scheinen.

Zum ungewollt größten Affront gegen Stalin gelang Vertov 1934 die Auftragsarbeit Drei Lieder für Lenin anlässlich des zehnten Todestages des Stalin-Vorgängers. Doch nicht nur das Fehlen einer Würdigung des amtierenden Generalsektretärs, sondern auch seine Orientierung auf das Volkstümliche im Südosten des Landes entsprach nicht der offiziellen Doktrin. Der Film wurde nach acht Tagen abgesetzt und nur in einer völlig veränderten Version wieder zugelassen. Das Metropolis zeigt die von Svilova in den 60er Jahren rekonstruierte Fassung.

Christiane Müller-Lobeck

Ein Sechstel der Erde: Do, 19 Uhr; Donbass-Sinfonie/Enthusiasmus: Do, 21.15 Uhr; Das elfte Jahr: 24.10., 19 Uhr; Drei Lieder für Lenin: 24.10., 21.15 Uhr, Metropolis; gerade erschienen: Dziga Vertov – Tagebücher/Arbeitshefte, hrsg. von Alexandra Gramatke und Thomas Tode, 275 S., DM 44,-