Voran ins Mittelalter

Die notgedrungen auch mit der Weltmusik tanzen: Die deutsche Folkszene steht auf der WOMEX-Messe nicht gerade im Mittelpunkt. Ein Streifzug

von CHRISTIAN RATH

Was im letzten Jahr für heftigen Ärger sorgte, wird diesmal zähneknirschend hingenommen. Die deutsche Folkszene kann bei der WOMEX zwar einen ganzen Abend gestalten – aber nur einige Bushaltestellen vom Tagungsort entfernt im Tränenpalast am Bahnhof Friedrichstraße. Unter den 30 „Official Showcases“ ist dagegen kein einziger deutscher Künstler.

„Als die WOMEX in Frankreich oder Schweden war, wurde das Gastgeberland nicht so versteckt“, findet Liane Fürst. Sie ist Mitarbeiterin von Profolk, dem deutschen Lobby-Verband für Folk, Lied und Weltmusik, der das Konzert organisiert. WOMEX-Chef Christoph Borkowsky verweist dagegen auf die unabhängige Jury, welche die Künstler ausgewählt hat. „Wir haben 180 Länder auf der Erde, aber nur 30 Showcases“, rechnet er vor, „klar, dass da vieles zu kurz kommt.“

Nun gibt es am Samstag um 22:30 Uhr also eine „Weltmusiknacht“ mit vier „Top Acts aus Deutschland“, die eigentlich alle keine Weltmusik machen, aber doch einen guten Querschnitt der deutschen Folkszene abgeben. „Kerberbrothers Alpenfusion“ verbinden Allgäuer Stubenmusi und Jazz, „Lynch the Box“ machen Irish Folk à la Westerwald, die Berliner Band „Di Grine Kuzine“ spielen schwungvollen Brass-Klezmer, und „Schandmaul“ aus Bayern ist mit Mittelalter-Folk-Rock dabei.

Wie heterogen die deutsche Szene ist, auch an einem Sampler nachvollzogen werden, den der Verband Profolk für Medien und Konzertveranstalter jedes Jahr zu Werbezwecken zusammenstellt, und auch auf der WOMEX präsentiert wird. Vielleicht spielt der Titel der nächsten Ausgabe „A Folk Odyssey“ ja gerade auf diese Unübersichtlichkeit an, vielleicht auch nur auf das Erscheinungsjahr 2001.

Als typisch für den deutschen Folk der 90er-Jahre kann eine gewisse Party-Orientierung angesehen werden. Darüber rümpfen zwar viele Alt-Folkies die Nase, aber Profolk-Präsidentin Heidi Zink (Fraunhofer Saitenmusik) findet das gut: „Das ist Musik, die vor allem ein junges Publikum anspricht. Und genau das braucht die Folkmusik heute, wenn sie eine Zukunft haben soll.“ An der Spitze der Party-fraktion stehen die „Transsylvaniens“ aus Berlin mit ihrem ungarischen Speedfolk, „Hiss“ aus Stuttgart, die Polka-’n’-Roll spielen, und „Fiddler‘s Green“ aus Erlangen mit keltischem Fun Folk. Erst jüngst groß rausgekommen sind „Lecker Sachen“ aus Köln: Sie bauen Folkelemente in ihren deutschsprachigen HipHop ein und sind damit sicher am nächsten dran an der aktuellen Jugendkultur.

Die in Deutschland zuletzt wichtigste Entwicklung im Bereich der traditionellen Musik, der Boom der Mittelalterszene, spielte sich allerdings überwiegend außerhalb des Folkbiotops ab. So gehen Jugendliche heute zwar wieder massenhaft auf Dudelsack- und Schalmeienkonzerte, hören dann aber Heavy-Mittelalter-Bands wie Corvus Corax oder In Extremo, und verstehen sich eben gerade nicht als Folkies. Trotz der musikalischen Verwandschaft blieb die Mittelalterszene lieber für sich und schuf sich mit ihren Märkten eine eigene Infrastruktur. Jürgen Brehme, Mitherausgeber der Zeitschrift Folker! kann die Zurückhaltung verstehen: „Warum soll sich eine boomende Bewegung auch das wenig trendige Label ‚Folk‘ anheften?“

Die Zeitschrift Folker! entstand 1998 als neues, professionell gemachtes Magazin aus einer Fusion. Vereinigt wurden damit zwei frühere Hausblätter der Szene, der westdeutsche Folk-Michel und das ostdeutsche Folks-Blatt. Eine Verschmelzung, die ohne große Probleme klappte, obwohl die Folk-Geschichte in Ost- und Westdeutschland durchaus unterschiedlich verlief. Im Westen begann die Bewegung auf Burg Waldeck im Hunsrück als Liedermachertreffen. Erst Mitte der 70er-Jahre öffnete man sich für unpolitischere Volksweisen, Trink- und Liebeslieder. Auch im Osten standen politische Lieder am Anfang, allerdings in Form einer staatlich gelenkten Singebewegung. Als die Ost-Folkies sich hiervon emanzipierten, benutzten sie gerne Lieder aus der 48er-Revolution, weil diese auch auf den DDR-Alltag gut passten, ohne politisch angreifbar zu sein.

Das Aufkommen der Weltmusik passte beiden Szenen nicht so recht ins Konzept. „Anfangs waren wir da sehr reserviert – wir hielten Folkmusik für viel authentischer“, erinnert sich der Leipziger Jürgen Brehme, „Weltmusik war für uns vor allem ein Teil der Popmusik, weil zu viele Details glatt geschliffen waren.“ Inzwischen hat sich auch das Szeneheft Folker! der Weltmusik geöffnet – nicht zuletzt um die Verkaufszahlen zu steigern, wie Jürgen Brehme freimütig einräumt. Die klassische Folk-szene kann sich für die Musik aus Afrika, der Karibik und Lateinamerika allerdings immer noch nicht recht begeistern. „Da ist noch ein starkes Schubladen-denken“, hat Klaus Sahm beobachtet, der als Inhaber von „Old Songs – New Songs“ den wichtigsten Mailorder für Folkmusik in Deutschland betreibt. „Im Westen der Republik ist bei den Verkäufen weiter keltischer Folk vorherrschend, in den neuen Ländern osteuropäische Musik. Weltmusiktitel laufen bei mir weder in West noch in Ost sonderlich gut.“

Entwicklungshilfe betreibt hier vor allem das Tanz- und Folkfest Rudolstadt in Thüringen, das Anfang Juli jeweils rund 60.000 Besucher aus ganz Deutschland zählt: Hier wird kein Unterschied mehr zwischen Folk und Weltmusik gemacht. Programmmacher Bernhard Hanneken lädt Künstler und Gruppen ein, als hätten beide Genres schon immer zusammengehört. Und auch sonst kennt er wenig Tabus: „Wir testen jedes Jahr aus, wo die Grenzen der Folkmusik gerade verlaufen.“

Selbst die deutsche Szene wird in Rudolstadt nicht vergessen. Gemeinsam mit Profolk und Folker! wird jährlich der Folk-förderpreis vergeben. Im letzten Jahr ging er an die Gruppe Schandmaul, die dafür jetzt auch bei der WOMEX (oder besser: in WOMEX-Nähe) spielen darf. Außerdem soll es in Rudolstadt nächstes Jahr erstmals auch einen regionalen deutschen Schwerpunkt geben. Angefangen wird natürlich mit Bayern – der einzigen Region, die noch so etwas wie lebendige Volksmusiktraditionen kennt.

Dagegen werden in der alternativen Volkstanzszene vor allem geborgte Traditionen gepflegt. Von der polnischen Mazurka bis zum baskischen Fandango und dazu natürlich viel französische Bourrées. In allen großen und vielen kleineren Städten gibt es regelmäßige Tanzabende und Folkbälle. Die Tanzszene, die auch vielen Bands ein Auskommen erlaubt, ist derzeit vielleicht der agilste Teil der deutschen Folklandschaft. Sie aber tanzt gar nicht zur WOMEX an.