Ausweitung der Kampfzone

Bergfest im HP-Universum: Band vier, „Harry Potter und der Zauberkelch“, vollzieht einen Genrewechsel – es gibt einen Sturz in die Konkretion

von PETRA KOHSE

Mitten in der Postmoderne umfängt uns das Barock. Sei es der Glaube an eine unsichtbare andere Welt, der Hang zum Rituellen oder die Lust auf groß angelegte Festlichkeiten – in spielerisch-merkantiler Weise trägt die Rezeption der Harry-Potter-Bücher voraufklärerische Züge. Tausende Kinder und Jugendliche werden allein in Berlin gestern Abend der Einladung von Buchhändlern gefolgt sein, auf dem Potsdamer Platz, an der Gedächtniskirche oder in der Spandauer Zitadelle mit spitzen Hüten, Zauberstäben und echten Fledermäusen das Erscheinen des vierten Bandes zu feiern. Als Bergfest sozusagen, denn die fantastische Jugendbuchserie der Schottin Joanne K. Rowling ist auf sieben Teile angelegt, und wie angekündigt kommt es in „Harry Potter und der Feuerkelch“ auch inhaltlich zur Wende. Punkt Mitternacht konnten die Mitglieder der Harry-Potter-Gemeinde den rund achthundertseitigen Roman dann erwerben und glücklich mit nach Hause nehmen wie einen wiedergefundenen Freund.

In der Tat dürften viele die Geschichte des neuen Bandes schon kennen: Das Original ist seit Juli erhältlich, und unter harry-auf-deutsch.de wurde eine Zeit lang auch ein unabhängiger Raubübersetzungswettbewerb veranstaltet. Aber wie bei allen seriellen Produkten ist Bekanntheit auch hier ein Argument für den Kauf und nicht dagegen. Wer drei Bände hat, will auch den vierten, wer die englische Ausgabe hat, will auch die deutsche. Bei der Erstauflage von einer Million Exemplaren wird es im Hamburger Carlsen Verlag nicht bleiben.

Zudem geht es wie bei jeder Serie nicht nur um das übliche Habenwollen, sondern um eine Teilhabe am Gesamtprojekt, die in diesem Fall durch kein Merchandising so effektiv suggeriert werden könnte wie durch den Akt des Lesens selbst. Denn der magische Moment, in dem der Waisenjunge Harry Potter erstmals von seiner Zaubererherkunft erfährt – könnte das nicht genauso gut der Augenblick sein, in dem man ein Buch aufschlägt oder zu träumen beginnt? Selige Gegenzeit herrscht in allen drei Systemen, und so tut eben jeder, was er kann.

Bände eins bis drei sollte man allerdings schon kennen, bevor man zum vierten Teil greift. Schließlich ist „Harry Potter und der Feuerkelch“ nicht nur die Fortsetzung, sondern eine Weiterführung der Serie. Die Sensation der ersten Folge war im Wesentlichen die skurril-beiläufige Entblätterung der magischen Parallelwelt selbst gewesen. Der Witz rührte zu nicht geringem Teil aus der Umkehr der Perspektive: dass diese kauzigen und müffelnden Leute mit ihren Besen, Kesseln und Zauberstäben als die Normalen und auf der Basis ihres fantastischen Horizontes auch Vernünftigen dargestellt werden, während sich die blank gewienerten, aber dumpfen und eleganzlosen Muggel (nicht mit Magie begabte Bürger) mit ihrer Unwissenheit so durch den Tag quälen.

In jedem Band hat Joanne K. Rowling die Grenzen des Zaubererreiches seither erweitert. Die Infrastruktur wurde komplexer, die Artenvielfalt der magischen Lebewesen größer und die Abenteuer, die Harry Potter und seine Freunde im Zaubererinternat erleben – und die die Bücher inzwischen bestimmen – düsterer und gefährlicher.

Im gleichen Maße, in dem sich das Unerhörte jetzt in immer abstraktere Bereiche verlagert, werden die Dinge des Alltags konkreter, wird die Typologie der handelnden Personen selbstverständlicher und verschwimmen die Grenzen zur Muggelwelt. Im vierten Band dringt die Zaubererfamilie Weasley in aller Freundlichkeit schon fast in den Wohnraum von Harrys entsetzten Verwandten ein. Auch Harry selbst ist längst nicht mehr nur der legendäre Junge mit der blitzförmigen Narbe auf der Stirn, der als Baby einen Anschlag des einstigen Zaubererweltbeherrschers Lord Voldemort überlebte und ihn dadurch besiegte, sondern der mittelmäßige Schüler, der auch mal ein Quidditchspiel verliert.

Quidditch ist eine Art Fußball in der Luft, auf Rennbesen gespielt, und der inzwischen vierzehnjährige Harry wird in der neuen Folge von den Weasleys zum Endspiel der Quidditch-Weltmeisterschaft eingeladen. Bei diesem Anlass erfährt man, dass es nicht nur in England, sondern in der ganzen Welt Zauberer gibt (entsprechend auch noch zwei andere Zaubererschulen) und dass sich deren Eigenheiten und Probleme von denen der Muggelbevölkerung nur im Detail, nicht aber im Thema unterscheiden. Es gibt Massensportbegeisterung samt Merchandising, Wetten und Hooliganismus. Am Rande des Spiels wird über Marktlücken (fliegende Teppiche als Familienfahrzeuge), internationale Konventionen (etwa die Dicke von Kesseln betreffend) und Karrierismus (Percy Weasley) gesprochen. Später spielen dann Frauenmagazine (Witch Weekly) eine Rolle, es geht um erste Verliebtheiten und Eifersüchteleien, um Selbstfindung (ich bin stolz darauf, ein Halbriese zu sein!), Minderheiten (eine Hauselfenbefreiungsfront wird gegründet), Klassenunterschiede, Verschuldung, politische Korruption, Waffen, Terrorismus, Kronzeugenregelungen und Faschismus.

Das ist definitiv keine Geschichte mehr für die Unter- oder Mittelstufe in Gymnasien. Es ist auch in der Welt des Buches keine Geschichte, in der Harry eine tragende Rolle spielen sollte: Am Turnier der drei Zaubererschulen, das im Zentrum der Erzählung steht, dürfen eigentlich nur Schüler der obersten Stufe teilnehmen. Doch aus Gründen, die sich jeder Zaubererlogik zunächst verschließen, spuckt der Feuerkelch, der aus jeder Schule drei Teilnehmer auswählt, zusätzlich Harrys Namen aus. Nun muss er – als Vierter im Team des Hogwart's-Gymnasiums – im Laufe des Schuljahres drei lebensgefährliche Aufgaben lösen.

Wie Harry mit dieser Situation umgeht, ist ein ganz eigenes und schönes Stück Jugendproblemliteratur in diesem opulenten Werk. Die ganze Schulatmosphäre ist von Leistungsdenken und Leistungsdruck geprägt, und Harry hat einfach Angst. Es geht ihm miserabel. Er leidet unter Versagensvisionen, unter seiner Ausnahmestellung, verkracht sich mit seinem besten Freund und ist unglücklich verliebt. Letztlich siegt er zwar doch, aber das Heldenmotiv der bisherigen Teile wird dadurch gebrochen, dass er nur deswegen siegt, weil er von allen Seiten Hilfe bekommt. Und natürlich bleibt er immer fair und bescheiden. Alles wird gut, suggeriert Rowling, wenn du ein netter Junge bist, einen Zauberstab hast und weißt, wer deine Freunde sind. Dann wieder macht sich Harry schuldig am Tod eines anderen und stirbt bei seinem letzten Sieg fast selbst.

Alle bisherigen Harry-Potter-Bände sind Mischungen aus Fantasy-, Abenteuer- und Internatsliteratur. Idyllen auch, in denen der Zaubereiminister die Butterbierwirtin grüßt und es trotz aller Gefahren letztlich die nette, mehr oder minder aufgeräumte, jedenfalls völlig normale Zaubererwelt bleibt, die man als Muggel nur zufällig nicht sehen kann. Im vierten Band aber vollzieht Rowling einen Genrewechsel. Die Ausweitung der Kampfzone hat auf eine andere Ebene geführt, es ist Schluss mit der Gemütlichkeit. In einem ganz plötzlichen Sturz in die Konkretion kommt es zu einer zaubertrankgestützten Reinkarnation von Lord Voldemort auf einem Friedhof.

Diese Szene hat eine unfreiwillige Splatterkomik, die der bisherigen Mentalität der Bücher fremd ist. Die Sache bekommt hier etwas von schwarzmagischem Kitsch. Man sieht eine fette Paperbackausgabe vor sich, der Titel in rotmetallischen Lettern auf blauschwarzem Hintergrund, das Coverbild zeigt ein Grab, und an ein paar Blutstropfen soll es auch nicht fehlen.

Dadurch, dass der Zaubereiminister die Wiedererstehung Voldemorts und seiner Truppe nicht glaubt, reißt Rowling das Ruder dann aber wieder herum und gibt gleichzeitig den Kurs vor für den fünften Band. Der weise Professor Dumbledore nämlich, Schulleiter von Hogwart's, bereitet im Untergrund eine weißmagische Internationale vor. Dass damit auch ein Skurrilitätenkabinett der Kreaturen droht, ist eine andere, in literarischer Hinsicht beunruhigende Sache: Die Riesen, Meerleute und Elfen können aktiviert werden, das magische Getier sitzt von den Hippogreifen über die Einhörner bis hin zu den Flubberwürmern wahrscheinlich auch auf dem Sprung – der „Herr der Ringe“ lässt grüßen.

Aber noch ist der fünfte Band nicht geschrieben, und der vierte ist trotz allem ein enormes Werk. Auch wenn die Scharniere zwischen den Geschichten gelegentlich quietschen, wenn Rowling zu oft den Gott aus der Maschine bemüht, wenn manche Beziehungen nicht ausgearbeitet erscheinen – es sind 800 Seiten!, der Großteil davon hat genügend Charme, Reichtum, Witz und Raffinesse, um den Erwartungstrubel beim Erscheinen des nächsten Teils im kommenden Sommer noch höher zu treiben als in diesem Jahr. Gerade das Jenseitige steht schließlich hoch im Kurs.

Joanne K. Rowling: „Harry Potter und der Feuerkelch“. Aus dem Englischen von Klaus Fritz. Carlsen Verlag,Hamburg 2000. 800 Seiten, 44 Mark