Vom Geschäft mit der Angst

90 Prozent der Jurastudenten gehen zum privaten Repetitor, um sich aufs Examen vorzubereiten. Für die Betreiber ist es ein Millionengeschäft. Es geht aber auch anders

Die mit braunem Plastikfurnier überzogene Wandvertäfelung des Ernst-Reuter-Saals im vierten Stock des AOK-Gebäudes passt gut zu den gelblichen, ebenfalls plastikfurnierten Tischen. An der Vorderwand des Saales hängt ein in Ölfarben gemaltes Großporträt von Ernst Reuter, das hier so deplatziert und verlassen wirkt wie die Bären im Bärenzwinger draußen vor dem Eingangsportal der früheren SED-Bezirksparteischule.

In dem ehemaligen „Otto-Grotewohl-Saal“ sitzen rund hundert Jurastudenten, die sich auf ihr erstes Staatsexamen vorbereiten und sich drei Nachmittage pro Woche von einem privaten Repetitor für 230 Mark im Monat dabei helfen lassen. Vor ihnen steht ein braun gebrannter junger Mann im Einreiher und exerziert die Feinheiten und Besonderheiten des „feststellenden“ und des „begünstigenden“ Verwaltungsaktes.

Montags steht immer öffentliches Recht auf dem Plan. Und da das Wetter nicht gut ist, will der Repetitor mit „Baurecht heute die Sonne im Herzen zum Scheinen bringen“. „Besonders Examensrelevant“ sei der heutige Fall, verkündet der Dozent. Die Studenten sollen herausfinden, ob ein entstandener „Schwarzbau“ abgerissen, ob er „platt gemacht“ werden darf. Und wie immer – so verspricht der hochgewachsene Jurist mit gegelten Haaren – werde natürlich das „Heftigste“ zuerst geprüft, „denn es eignet sich ja im Zweifelsfall am besten für eine Klausur“. Auf das Stichwort „examensrelevante Terminologie“ zücken die Studenten ihre Stifte. Die „atypische Bauordnungsverordnung“ müsse man unbedingt in einer Klausur erwähnen. Denn der Prüfer sei der Gegner, wie es in einer Werbebroschüre des Repetitoriums heißt – der wolle nun mal bestimmte Dinge einfach lesen.

„Das Problem an der Uni ist, dass den meisten Dozenten die didaktischen Fähigkeiten fehlen. Die Leute werden nicht auf das vorbereitet, was im Examen abgefragt wird“, erklärt Thomas Kämmer, der eines der größten Repetitorien Berlins betreibt. Die Professoren seien auf ein positives Feed-back nicht angewiesen. Sie würden Studenten nicht richtig auf die äußerst kniffeligen Examensfälle vorbereiten, welche sich die Professoren aber selbst ausdenken würden. Im Repetitorium hingegen bewerteten die Hörer ihre Lehrenden ständig durch regelmäßige Umfragen. „Die Teilnehmer können einen Dozenten abwählen, wenn er ihren Erwartungen nicht gerecht wird“, erklärt Kämmer. Sein Modell hält er für die einzig sozialverträgliche Alternative zu teuren Jura-Privathochschulen, wie der gerade neu eingerichteten Bucerius Law School in Hamburg. Dort muss jeder Student pro Jahr 15.000 Mark Studiengebühren bezahlen. Bei den Repetitorien sind es in der Regel nur zwei- bis dreitausend Mark – für die Betreiber ist dies trotzdem ein Millionengeschäft.

In den Universitäten hört man die Schelte nicht gerne. Für Klaus Marxen, Strafrechtsprofessor an der Humboldt-Universität, ist es eine „Herausforderung, es besser als die privaten Repetitoren zu machen“. Obwohl 90 Prozent aller Examenskandidaten zu den Privaten gehen, ist er ein vehementer Verfechter der Uni-Repetitorien. Denn die Examensvorbereitung sei laut Studienordnungen selbstverständlich eine Aufgabe der Hochschule.

„Wir haben den Vorteil, dass wir finanziell nicht darauf angewiesen sind, Angst vor dem Examen zu schüren, und kennen aus eigener Erfahrung die Prüfungspraxis besser als mancher private Repetitor“, meint Marxen. Da viele Studenten zu den privaten Kursen abgewandert seien, würden die universitären Rep-Kurse eine individuellere Betreuung zulassen als bei den privaten Anbietern. „Die Vermittlung einer gewissen juristischen Souveränität ist wichtiger als sinnloses Auswendiglernen von Theorien und Fachwissen.“

Von den Jurastudenten, die es bis zum Examen schaffen – dies ist in der Regel nur ein Drittel aller Studienanfänger –, trauen sich nur wenige, dem Gruppenzwang der Kommilitonen zu entgehen und sich ohne Repetitor auf das Examen vorzubereiten. Friedericke Wapler war eine von ihnen. Eineinhalb Jahre hat sie sich mit drei Mitstudenten täglich getroffen, Fälle gelöst, gegenseitig Wissen abgefragt. „Durch die Arbeit in der Gruppe habe ich einen unabhängigeren Zugang zum Stoff bekommen. Jetzt im Referendariat merke ich, dass ich Lösungen unbefangener entwickeln kann“, erzählt Wapler. Zusammen mit zwei Bekannten hat sie ein Buch verfasst, in dem praktische Tips zum „Examen ohne Rep“ gegeben werden. Die zweite Auflage soll im Dezember erscheinen. „Die Leute gehen zum privaten Repetitorium, weil sie Sicherheit brauchen. Wir sagen, man kann sich selber diese Sicherheit schaffen, indem man sich einen systematischen Lernplan macht und ihn dann häppchenweise abarbeitet.“

Der Streit um die richtige Examensvorbereitung ist eine Glaubensfrage, in der es auch um psychologische Aspekte geht. Das Jurastudium ähnelt nach der Einführung der „Freischussregelung“ Anfang der 90er-Jahre der Vorbereitung auf einen Sportwettkampf. Die meisten Jurastudenten suchen bis zum Ende ihres achtsemestrigen Schnellstudiums nach der optimalen Vorbereitungsmethode. Das Repetitorium gilt dabei als legales Steroid. Diejenigen, die es ohne schaffen – sie erzielen in der Regel weit überdurchschnittliche Noten –, gelten als Helden einer Schar verschreckter Paragraphenpauker.

Die Examensnote brandmarkt Juristen ihr Leben lang. Selbst nach langjähriger Berufserfahrung wird ein Jurist bei einer Bewerbung nach seinen Examensnoten bewertet. Von diesem Stigma kann er sich kaum befreien. Das weiß auch jeder Student im Ernst-Reuter-Saal. Und sobald das Stichwort „examensrelevant“ erneut ertönt, greifen hunderte Hände nach den Stiften.

OLIVER SCHILLING