Christuskinder im Kastratensound

■ Die ganz wunderbaren Tiger Lillies aus London boten in der „Roten Ratte“ des Musical-Theaters am Richtweg eine beeindruckende musikalische Freak-Show

Alle Jahre wieder kommt nicht nur das Christuskind auf die Bremer Erde nieder. Auch die Tiger Lillies beehren die hiesigen Breitengrade mit großer Verlässlichkeit, selbst dann, wenn ihr Stammhaus in der Friesenstraße seit ihrem letzten Auftritt das Zeitliche geseg-net hat und sie so gezwungen sind, in einem Nebenraum des Musical-Theaters am Richtweg zu spielen.

„Rote Ratte“ heißt dieser Ort, der von der leuchterbestückten Decke über die Wände bis hin zum Fußboden rote Plüschigkeit verströmt und so zumindest im Ansatz so verrucht wirkt, wie das mörderische Musical nebenan immer wirken will. Zwei Monate wird die „Rote Ratte“ dem Ensemble des Jungen Theaters und der Blue Moon Bar als provisorische Heimstätte dienen. Zwei Abende lang bot sie die Bühne für ein eigenartiges Trio aus London, das in der Musikwelt seinesgleichen sucht, ohne je fündig zu werden.

Noch ehe die drei etwas abgenutzten Herren mit viktorianischen Hüten den Raum betraten, ahnte man, dass die Tiger Lillies wohl würden Seltsames darzubieten haben. Am Schlagwerk des Drummers Adrian Huge baumelte ein ziemlich totes Suppenhuhn vor sich hin. Gleich neben dem Spielgerät des Bassisten Adrian Stout blickte ein kleines Schaf unschuldig ins Publikum – Reminiszenzen an die gute alte Zeit des Albums „Farm-yard Filth“, als die Tiger Lillies huldigten den Wonnen des Vögelns mit Schafen, Insekten, Giraffen und was da sonst als Fauna herumfleucht. Neben dieser Vorliebe für thematische Eigentümlichkeiten zeichnet die Tiger Lillies eine weitere Besonderheit aus: der Gesang ihres Gründers Martyn Jacques.

Kaum dass die ersten wunderschönen kastratenhohen Töne seinem weit geöffneten Mund entspringen, will man lieber nicht mehr wissen, welchen chirurgischen Eingriffen sich dieses Stimmwunder wohl verdanken mag. Glaubt man seinen Selbstbekundungen, dann hat der aus Londons Stadtteil Soho stammende Jacques sein Countertenor-Organ professionell schulen lassen. Doch das allein reicht nicht, um der unumstittene (Kehl-)Kopf der Tiger Lillies zu werden.

Die Gesangsstunden erfolgten in Jacques' Wohnung, die oberhalb eines bevorzugt von schrägen Gestalten frequentierten Strip-Lokals liegt, in der er die Abende verbrachte. Wer wissen will, wessen Bekanntschaft Jacques dort gemacht hat, findet in den Songs der Tiger Lillies die Antwort. Pyromane, Prostituierte, Mörder, Aufschneider und vom Schicksal Gezeichnete bilden in Jacques' Texten eine Freak-Show des prallen Lebens. Begleitet von Akkordeon und Klavier singt Jacques vom lustvollen Tabubruch und den Reiz der Dekadenz, erzählt vom Kriegsveteranen, der seinen verstümmelten Körper stolz zur Schau trägt und davon, dass wir am Ende aller Tage mit den Fischen am Grund des Meeres schlafen werden.

So eigentümlich die Texte, so einzig die Bastard-Musik: Eine Mischung aus Jahrmarktsmusik, Schweizer Jodeln, Chansons und Zigeunerjazz, bei der Federico Fellini die Regie führt und Johnny Rotten den Souffleur gibt. Eine Atmosphäre, die an den frühen Kevin Coyne erinnerte, jene Milchstraße in der an Sternen wahrlich nicht armen Musikszene Englands der 70er Jahre, der in den Irrenanstalten des Königreichs suchte, was Jacques in den Strip-Lokalen der Insel fand.

Und so wurde dieser hinreißende Abend in der Behausung der roten Ratte einer jener raren Momente im Leben eines Konzertgängers, die man schwerlich vergisst: Während Martyn Jacques fortwährend daran erinnerte, dass am Ende jeder sterben muss, das Dasein also kaum mehr als Schall und Rauch ist, nichts ewig wehrt und hinter jeder Freude schon das Grauen lauert – mitunter den Job erledigte, für den gemeinhin der Papa vom Christkind bezahlt wird – , befummelte Adrian Huge davon unberührt mit kindlichem Vergnügen allerlei skurriles Gerät zwecks Klangerzeugung. Und aus dem häufiger mal entzückt-entrückten Blick des Bassisten Adrian Stout lasen wir schließlich die beruhigende Botschaft heraus, dass die beiden, die den Jacques'schen Weisheiten allabendlich ausgesetzt sind, alles andere als traurig-resignierte Menschen werden. Franco Zotta

Wer die Tiger Lillies am Wochenende in Bremen verpasst hat, muss sich darob zwar grämen, bekommt vom Leben aber eine zweite Chance geboten. Denn das Trio gastiert bald schon über einen Monat lang im Bremer Vorort Hamburg! Vom 1.11. bis zum 3.12. ist das „Tiger Lillies Varieté“ allabendlich im Blauen Zelt der Fliegenden Bauten zwischen Seilerstraße und Simon-von-Utrecht-Straße zu sehen. Karten: Tel.: 040/39 90 72 66; www.fliegende- bauten.de