Freuden der Individualität

Viel blondes Haar und „Wild Girls“ als T-Shirt-Aufdruck: Wie sehen die Kindheiten von heute aus? Der Berliner Künstler York der Knöfel hat die Klasse 1b der Papageno-Schule in Mitte fotografiert. Das Ergebnis der Dokumentation ist als großformatige Bilderfolge in der Galerie Wohnmaschine zu sehen

von ANDREAS HERGETH

Was tragen Erstklässler um den Hals? Ein simples, zusammen geknotetes Stückchen gelbschwarzes Band zum Beispiel. Dazu trägt das Mädchen ein blaues T-Shirt, eine Hose mit Seitentaschen, einen um die Hüften geknoteten, roten Pulli. York der Knöfel hat die Sieben- oder Achtjährige fotografiert, nun hängt das Mädchen ohne Namen etwas überlebensgroß in der Galerie Wohnmaschine.

Doch sie ist nicht allein. York der Knöfel porträtierte die gesamte 1b der Papageno-Schule in Mitte. „Ich habe einmal die ganze Klasse auf einen Haufen gesehen und war beeindruckt von der individuellen Präsenz der kleinen Leute.“ Mit der Kamera überraschte er die Schüler, keiner der Erstklässler wusste, dass er ganz ohne Vorgaben plötzlich vor einem neutralen Hintergrund posieren sollte.

Das Mädchen mit der Schnur als Kette hat zum Beispiel ein bedrucktes T-Shirt an: „Wild Girls“ steht da; darunter sind drei Strichfiguren zu sehen, die Mädels haben große Augen und riesige Münder. Doch der Blick des Betrachters wird in das Gesicht der Porträtierten gelenkt. Sie blickt den Betrachter frontal an, ihr Kopf ist zur Seite geneigt. Das kleine Fräulein, das ihr in der Galerie zur Seite hängt, trägt Ohrringe, einen lila Pulli mit zwei Bärchen als Zierde und eine karierte Hose. Auch sie guckt einen direkt an, verzieht aber ansonsten keine Miene.

Anhand der 18 Porträts lassen sich prima Zahlenspielereien betreiben. Man zählt sich Interpretationsansätze zusammen: Fast alle sind hell- bis dunkelblond, nur zwei haben dunkle Haare. Ein Junge stützt seine Hände in der Hüfte ab, ein anderer macht geheime Zeichen mit der rechten Hand, und ein Fräulein hält einen ihrer kleinen Finger fest. Schüchtern oder verlegen? Die Mehrzahl lässt die Arme einfach lässig baumeln.

Sieben von ihnen versuchen ein vorsichtiges Lächeln, zwei lachen richtig, der Rest verzieht den Mund mehr oder weniger zu einem schmalen Strich. Und ein Junge scheint genervt von der Fotoaktion. Die Haare sind mal kurz, mal lang, mit einer Ausnahme hübsch „ordentlich“ frisiert. Die Mode ist mannigfach. Lässiges T-Shirt neben Blümchenmuster, Ethnolook neben sportlichen Emblemen. Was das alles zeigt? Auch bei Kindern besitzt die Individualität bereits ausgeprägte Züge. Wer weiß, was aus ihnen wird, wie sie werden? Bei einem porträtierten Kind kann der 38-jährige Künstler den Prozess weiter verfolgen: Sein Sohn Ivan-Garcia lacht fast als einziges Kind der Porträtreihe hemmungslos und hat ganz „unordentliche“ Haare.

Bis 12. 11., Di-Fr 14-19; Sa 12-17 Uhr, Galerie Wohnmaschine, Tucholskystr. 35