: Auf kleiner Überfahrt
Differenz, Comic und Wiederholung: Der Zeichner Martin tom Dieck und Jens Balzer erzählen in einem Comicband von Gilles Deleuze und seinen Abenteuern im Totenreich. Sie erzählen es fünfmal auf je neun Seiten mit jeweils vier Panels
Vor ungefähr 40 Jahren schrieb der Philosoph Roland Barthes, die Literatur sei tot. Der Nouveau Roman machte es vor, er präsentierte mehr das Erzählen, als dass er sich darauf einließ. Die elektronische Musik hat es besser, dort kommen lange Stücke mit nur minimalen Veränderungen aus, ohne dass sie langweilig werden. Und der Comic?
Der diesjährige Max-und-Moritz-Preisträger Martin tom Dieck und der Comictheoretiker Jens Balzer erzählen, wie Gilles Deleuze von Charon über die Lethe gesetzt und im Totenreich von den Philosophiekollegen Foucault, Lacan und Barthes freudig begrüßt wird. Genauer: Sie erzählen es fünfmal auf je neun Seiten mit jeweils vier Panels. Am Ende jeder Episode steht Deleuze wieder vor der Hütte des Totenschiffers. Oder war es der Anfang? Denn obwohl die Bilder gleich bleiben, verändert sich in jeder Episode etwas. Erst liest Charon Fachliteratur – „Die neuen Abenteuer des unglaublichen Orpheus“ –, dann Deleuze’ Hauptwerk „Differenz und Wiederholung“. Erst zeigt Roland Barthes ihnen Fotos von seiner Mutter, dann ist Lacan auf der Suche nach einem entwendeten Brief.
Gerade diese Sticheleien gegen philosophische Götzenheilige machen den Charme dieses Do-it-yourself-Wiederholens und -Differenzierens, dieses Adaptierens von Deleuzeschen Lehrsätzen für eine Bildergeschichte aus. Und doch fehlt dieser Hommage bei aller Liebe zum geistesgeschichtlichen Detail alles Schulmeisterliche; der Tod und die Philosophie sind gleichermaßen ernst wie auch banal.
Bis zur deutschen Ausgabe, die jetzt im Verlag Arrache Coeur erschienen ist, hat es einige Umwege gebraucht. 1996 veröffentlichte das Magazin Strapazin vier Seiten, schon unter dem Titel „Salut, Deleuze!“. Das Album erschien 1997 in Belgien, es folgte eine niederländische Ausgabe. Selbst das US-amerikanische Fachblatt The Comic Journal berichtete über den ungewöhnlichen Hamburger Martin tom Dieck. Dabei sind die Zeichnungen tom Diecks geradezu waghalsig. So gleicht der Kopf von Deleuze in der Rückenansicht einem gestauchten Holzscheit, von vorne ist er eben – wie eine gewöhnliche zweidimensionale Zeichnung. In der Seitenansicht bemerkt man das Fehlen des Halses, der Kopf hängt äußerst fragil an der Kragenspitze.
Dieck zeichnet also falsch. Auf nicht sauber durchgeschwärzten Hintergründen entstehen krakelige weiße Auslassungen, mitten in Schraffuren wechselt abrupt die Richtung des Striches. Das sind keine Imitate von Kinderzeichnungen. Es ist nur so, dass Dieck sich zu weigern scheint, die Gesetze der Perspektive oder gar des goldenen Schnitts anzuerkennen. Er will Wirkung erzeugen, nicht Vorbilder repetieren. Was herauskommt, ist ein Comic. Einer der waghalsigsten, einer der schönsten der letzten Jahre.
MARTIN ZEYN
Martin tom Dieck/Jens Balzer: „Salut, Deleuze!“. Verlag Arrache Coeur 2000, 24,80 DM
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen