Kleine ernste Gesichter

Der Dokumentarfilm „Russlands Wunderkinder“ von Irene Langemann zeigt den Alltag der Schüler der Zentralen Musikschule des Moskauer Konservatoriums. Da möchte man kein Wunderkind sein

Wunderkinder sind wie Zirkusponys: klein, flink und rausgeputzt. Ihre Kunststücke faszinieren das Publikum. Gleichwohl macht das Abweichen vom Normaltalent misstrauisch. Schließlich führen Wunderkinder einem immer auch das eigene Scheitern vor Augen. Gerne unterstellt man ihnen daher synthetische Leistungen, mangelhaftes Sozialverhalten oder elterlichen Drill.

Wunderkinder sind normalerweise selten. In Moskau gibt es indes eine ganze Musikschule voller Kinderstars. Die sibirische Filmemacherin Irene Langemann hat einen Dokumentarfilm über die Hochbegabten gedreht. „Russlands Wunderkinder“ zeigt den Alltag besonderer junger Menschen und verfolgt sie, wenn sie in normalen Pullovern ihrem Beruf nachgehen und eben keine Schleifchen im Haar tragen.

Die porträtierten Wunderkinder leben meist in Moskauer Plattenbaugebieten. Das Wohnen ist sehr beengt und von komplizierten Untermietverhältnissen bestimmt. Die siebzehnjährige Lena kommt eigentlich aus dem ukrainischen Charkow. Seit sie neun ist, gibt sie Konzerte – vor UNO-Generalsekretären und dem Papst, hat aber im Hochhaus kein Klavier zum Üben. Sie teilt sich ein Zimmer mit ihrer Mutter, die vor den Auftritten nervös das rote Rüschenkleid bügelt.

Lenas Klavierspiel ist so schön, dass die Filmemacherin es als Begleitmusik zu den Postkartenansichten goldener Moskauer Stadtlandschaften einsetzt. Normalerweise fährt Lena dagegen mit dem Autobus durch dreckigen Großstadt-Schneematsch. Ihre Musikschule ist ein breites Gebäude, an dem orangefarbener Putz abblättert.

Die Zentrale Musikschule des Moskauer Konservatoriums besteht seit den Dreißigerjahren. Damals wurde unter Stalin die Musikerziehung zur Staatsaufgabe erklärt. Bis heute ist die Zentrale Musikschule die begehrteste Bildungsstätte im Land. Aus allen Teilen Russlands pilgern Eltern mit ihrem Nachwuchs hierher, lauschen bei der Aufnahmeprüfung ängstlich vor der Tür, in der Hoffnung, in die Musikelite hereingelassen zu werden. Wenn das klappt, bedeutet das die begehrten bezahlten Tourneen im Ausland. In Strümpfen vor dem Fernseher sitzend, guckt sich die Familie später gemeinsam mit den Solisten und Solistinnen die Auftritte auf Video an.

Der Zauber der von der Filmemacherin ausgesuchten Kinder teilt sich gerade vor solch unaufgeregter Kulisse mit. Ira ist acht Jahre alt. Wenn sie Chopin-Stücke spielt, klingt das so wundervoll melancholisch, als hätte sie bereits allen Schmerz der Welt erfahren. Sie sagt: „Wenn ich etwas sehe, höre ich sofort Musik. Mit Musik kann man zeigen, dass Blumen tanzen“.

Selbst Wunderkinder müssen dafür viele Stunden täglich üben. In der Pause zeigt der zehnjährige Mitja einem Klassenkameraden die Partituren seiner selbst komponierten Sinfonien. Die Schneeballschlachten draußen veranstalten immer die anderen. Wenn er groß ist, will Mitja viele, viele Autos besitzen und damit auf der Krim spazierenfahren. Auch das sagt er mit ernsthafter Miene. Der Film zeigt sehr viele kleine ernste Gesichter.

Wenn Wunderkinder dann erwachsen werden, wie es Lena aus der Ukraine passiert, sind sie nicht mehr begehrt. Sie müssen sich mit erwachsenen Musikern der Superklasse messen. Es klingt sehr traurig, als Lena sich erinnert: „In Charkow war ich ein Star.“ Auch nach dem Besuch des Films möchte man kein Wunderkind sein. Aber vor den hingebungsvollen russischen Eltern hat man Respekt.

KIRSTEN KÜPPERS

„Russlands Wunderkinder“. Regie: Irene Langemann, Deutschland 2000, 98 Min.