Der Zivilisationsbruch des Drohbriefs

Bridgeabende werden telefonisch abgesagt: Am 18. Oktober 1941 verließ der erste Zug mit über 1.000 Juden Berlin in Richtung Lodz. Mit zwei Einaktern erinnert das Berliner Ensemble an den Beginn der Deportation der Berliner Juden

Stockdunkel ist das Berliner Ensemble, wie bei einer Stromsperre oder einer Katastrophe. Allein auf dem Boden wurden Neonröhren ausgelegt, die den Weg auf die Hinterbühne weisen, in die Eingeweide des Theaters. Geschwärztes Mauerwerk gleicht angesengtem Fell. Es geht heute ums Ungeheuerliche: Das Berliner Ensemble erinnert an den Beginn der Deportation der Berliner Juden. „Wir haben uns vertraglich verpflichtet, alljährlich dieses Tags zu gedenken“, sagt Dramaturg Hermann Beil, „und wir kommen dieser Verpflichtung nach.“ Am 18. Oktober 1941 verließ der erste Zug mit über 1.000 Juden Berlin in Richtung Lodz. Das dortige Ghetto war Zwischenstation, finale Destination Auschwitz.

Zum Gedenken bringt das BE für einige Tage zwei Einakter auf die Bühne, „Die jüdische Frau“ von Bertolt Brecht und „Mutters Tag“, ein neues Stück von Christoph Hein. Gemeinsam spannen sie einen Bogen über 65 Jahre Deutschland. In dem Stück von 1935 sehen wir eine jüdische Frau, die erst ihrem arischen Mann eine neue Haushaltshilfe besorgt und dann ihre Koffer packt und verschwindet. Auf wenige Wochen nur, wie sie damals denkt.

Im Stück aus dem Jahre 2000 sehen wir auch eine Frau, ungefähr so alt wie die erste – allerdings schon seit knapp 60 Jahren tot. Sie sucht ihren Sohn als Erscheinung heim. Er ist jüdischer Schriftsteller und über 80-jährig gerade nach Deutschland zurückgekehrt. Die Mutter rät ihm aus eigener Erfahrung, niemals ein einzeln stehendes Haus zu bewohnen und stets in den zweiten Stock zu ziehen: So hoch fliegen Steine nicht. Und „die Antisemiten müssten verrückt sein, ein Haus, das von anderen Häusern umgeben ist, anzuzünden“. Er erhält Drohbriefe und unflätige Anrufe, Steine fliegen. Deutschland heute.

Auf die Bühne ist ein Davidstern gemalt. Er begrenzt die Spielfläche. Diese Grenzen können unendlich sein, versinnbildlichen doch die beiden ineinandergeschobenen Dreiecke die Durchdringung von sichtbarer und unsichtbarer Welt. Der Stern kann aber auch eng gefasst werden als Symbol des jüdischen Staates – als seien die Juden nur in Israel sicher.

Claus Peymann hat die Uraufführung von Heins „Mutters Tag“ inszeniert. Leider bisweilen mit dem Holzhammer und dazurecht einfallslos. Es wird nicht sinnfällig, wie die Mutter ins Leben des Sohns tritt – als Phantom? Als Bedrohung? Als Prophetin? Ursula Höpfner darf eben nur geschwätzig sein.

Der erste Teil des Abends, „Die jüdische Frau“, ist dem Brecht-Programm entnommen, das George Tabori für die Probebühne erarbeitet hat. Man merkt der Szene an, dass sie ursprünglich nicht als Eröffnung gedacht ist, doch Therese Affolter zieht ihr Publikum schnell in den Bann. Man spürt beklemmt, wie sich der Spielraum der jüdischen Frau fast unmerklich einengt. Bridgeabende werden plötzlich telefonisch abgesagt; regelmäßige Treffen verschoben. Alles nicht böse gemeint. Trotzdem wird die gutbürgerliche Frau zur Aussätzigen.

Isoliert ist auch der Schriftsteller aus „Mutters Tag“. Er schreibt und schreibt und ist nur per Telefon mit der Außenwelt verbunden – bis sie gewaltsam in seine Isolation hereinbricht. Hakenkreuzbeschmierte Steine plumpsen auf den sechseckigen Stern. Plumpe Zeichen, die man leichten Herzens übersieht, weil George Tabori den Schriftsteller spielt: eigentümlich, in sich gekehrt, gefüllt von gelebtem Leben. Man wird regelrecht neugierig, was er in die alte Maschine tippt. Und erinnert sich plötzlich, dass auch Tabori schon bedroht wurde. Der Zivilisationsbruch beginnt nicht erst beim Gas oder der Pistolenkugel, sondern bei einem solchen Drohbrief. TOM MUSTROPH

„Die jüdische Frau“/„Mutters Tag“. 18. 10., 12 u. 20 Uhr, Berliner Ensemble, Bert-Brecht-Platz 1