Die Beschleunigung der rasenden Zeit

Lothar Baier hat die neue Kopflosigkeit der Eile betrachtet: ob im Kosovokrieg oder beim „Reformstau“. Leider neigt der Essayist zum durchgängigen Kulturpessismus – und erkennt überall eine „geistesgeschichtliche Regression“

Seit Sten Nadolnys Erfolg mit „Die Entdeckung der Langsamkeit“ hat das Unbehagen ob der rasenden Zeit eher noch zugenommen. Inzwischen haben die Entschleuniger in Klagenfurt einen Verein gegründet, veranstalten Tagungen, geben Bücher und in Berlin gar eine Literaturzeitschrift heraus. Nun hat sich Lothar Baier, Essayist und Redakteur der Schweizer Wochenzeitung, zu ihnen gesellt. Der Titel seines Buches – „Keine Zeit“ – ist passenderweise kurz, aber die „18 Versuche über die Beschleunigung“ nehmen trotzdem mehr als 200 Seiten ein.

Baiers Grundthese ist einleuchtend. Er meint, dass „viele der sichtbaren Veränderungen und Tempobeschleunigungen, die uns kopflos machen und die Empfindung vermitteln, das Tempo nicht mehr mithalten zu können, gar keinen eigenen Realitätskern besitzen, sondern willkürlich erzeugt werden“. Die Veränderungen spielten sich nur auf der „Benutzeroberfläche“ ab. Eine solche sieht Baier nicht nur am Computerbildschirm, sondern auch in der Realität.

Doch leider gibt sich Baier keine Mühe, die „Benutzeroberflächen“ im Einzelnen aufzuspüren. Er benutzt den Begriff als Carte blanche und behandelt – nach knappen Ausführungen zur Beschleunigung der Zeit in der Aufklärung – so unterschiedliche Phänomene wie den Zeitschlucker Computer, die physikalische Zeit, Reformstau, Multikulturalismus, Apokalypsenangst oder Kosovokrieg. Dabei ist immer auch von Zeit die Rede – aber vor allem von anderen Dingen, für die Lothar Baier bisher offenbar keine hatte. Das ist im Einzelfall durchaus interessant, etwa wenn Baier die Depressiven von heute als Nachfolger der nervösen Kranken um die Jahrhundertwende vorstellt.

Manchmal aber ist es schlicht ärgerlich. So behauptet Baier, dass den zahllosen Begegnungen von Völkern, Sprachen und Traditionen auf dem Weltmarkt „die Möglichkeit dauerhafter Folgewirkung“ entzogen werde, weil ihnen keine Zeit zur Vermischung bleibe. Der Multikulturalismus halte so die Abgrenzungen zwischen den Kulturen aufrecht. Ganz anders, in langer wechselseitiger Durchdringung von afrikanischen Sklaven und französischen Pflanzern, sei die Kultur der Antillen entstanden.

Baier lobt also die (unbeabsichtigten) Effekte von Kolonialismus und Sklaverei. Problematisch ist auch manche historische Dramatisierung. So meint er, Adolf Hitler habe in seinem „absoluten Narzissmus“ seine Lebenszeit mit der Weltzeit gleichschalten wollen: Sie sollte mit ihm untergehen. Heute sei „Hitlers monströser Geist“ in der „alternativlos herrschenden Börsenwertegemeinschaft“ lebendig. Eine groteske Fehlleistung!

Trotz der thematischen Weite von „Keine Zeit“ gleicht ein Kapitel wie ein Ei dem anderen. Dafür sorgt ein durchgängiger Kulturpessimismus, der überall einen „erheblichen Fortschritt in Richtung geistesgeschichtlicher Regression“ erkennt. Außerdem bietet Baier in jedem zweiten Absatz ein längeres Zitat. Der Zettelkasten liefert das Gerüst seiner Argumentation, was gewagte, zuweilen logisch falsche Überleitungen provoziert. JÖRG PLATH

Lothar Baier: „Keine Zeit. 18 Versuche über die Beschleunigung“. Verlag Antje Kunstmann, München 2000, 224 Seiten, 32 DM