Die Würgeengel

Wo warst du, als Franco starb? In „Der Fall von Madrid“ beschreibt Rafael Chirbes die Stunden vor dem Tod des spanischen Diktators. Keiner glaubt hier wirklich, dass eine neue Zeit anbrechen wird
von DIEMUT ROETHER

Die Nacht, in der der Generalísimo Francisco Franco y Bahamonde starb, war eine jener Nächte, die bleiben. Im Nachhinein will natürlich fast jeder, der damals alt genug war, am 20. November 1975 heimlich eine Flasche Sekt entkorkt haben. Und kaum einer von denen, die sich ganz gut mit dem System arrangiert hatten, würde wohl noch zugeben, dass er damals Angst hatte vor dem, was kommen würde.

Die Frage „Wo warst du, als Franco starb?“, beantwortet der spanische Schriftsteller Rafael Chirbes für fast zwei Dutzend Menschen in seinem neuen Roman „Der Fall von Madrid“. Und er beantwortet sie auch wieder nicht, denn er beschreibt den Tag, bevor die Nachricht vom Tod des Diktators bekannt wird. Tatsächlich endet das Buch, ehe die Todesnachricht eintrifft. Die Pointe seiner Erzählung hat Chirbes sich verkniffen.

Er hat gut daran getan. Denn Chirbes hat einmal mehr ein Phänomen beschrieben, das die Historiker mit empirischen Daten nur unzureichend fassen können. Dass der Übergang Spaniens zur Demokratie noch zu Lebzeiten des Diktators begann, ist im Nachhinein zwar leicht zu belegen, doch damals hätte wohl kaum jemand seinen Kopf darauf verwettet, dass die Demokratisierung des Landes tatsächlich so schnell und reibungslos vonstatten gehen würde. Chirbes liefert ein beeindruckend detailgenaues Mosaik des Zeitgeists: Die Ängste und Hoffnungen der Menschen, die er in seinem Buch beschreibt, summieren sich zu einem Panorama Spaniens im November 1975. Alle wissen, dass eine neue Zeit anbrechen wird – doch keiner glaubt wirklich daran. Und so entsteht, ähnlich wie in Luis Buñuels Film „Der Würgeengel“, das Bild einer erstarrten Gesellschaft: Keiner wagt es, sich als Erster zu bewegen.

Im November 1975 lag der General seit Wochen in Sterben – seit Jahren, so erschien es den Gegnern seines Regimes, die ein Ende der Agonie, die das ganze Land lähmte, herbeisehnten. „Ich glaube, der Hund stirbt nie“, sagt einer von Chirbes' Protagonisten. Legenden von Doppelgängern machten die Runde, die Franco nach einer seiner zahlreichen Krankheiten immer wieder ersetzt haben sollen. Die Personen, die Rafael Chirbes an diesem grauen, regnerischen Novembertag zusammenführt, sind desorientiert: Die Studenten debattieren, ob sie die Revolution beginnen und in die Innenstadt marschieren sollen, entscheiden sich dann aber doch dafür, wie geplant einen „literarischen Marathon“ in der Aula abzuhalten – bis die Versammlung von Polizisten mit Knüppeln gesprengt wird. Don José Ricart, der Möbelfabrikant und Paterfamilias, der mit Schwarzhandel und der Arbeit der politischen Gefangenen reich gewordenen ist, hat längst seine Schäfchen ins Trockene gebracht und sein Vermögen ins Ausland transferiert. Er ist ein glaubwürdiger Vertreter jener Unternehmer, die dank der schützenden Hand des Caudillo so stark geworden waren, dass sie sich nun getrost dem freien Wettbewerb im echten Kapitalismus stellen konnten.

Maximino Arroyo schließlich, Kommissar der politischen Polizei und Freund von José Ricart, überlegt, sich ins Ausland abzusetzen. Denn er hat Angst, so zu enden wie die Büttel des Diktators Salazar im Nachbarland Portugal, die während der Nelkenrevolution von der aufgebrachten Menge gejagt wurden. Morgens nahm er das Abendmahl, und am selben Abend ließ er stillschweigend einen politischen Gefangenen ermorden.

„Der Fall von Madrid“ knüpft an Chirbes' älteren Roman „Der lange Marsch“ an: Auch diesmal entwirft der Autor keine wirklichen Charaktere, sondern Prototypen, aus denen er sein Stillleben des spätfranquistischen Spanien zusammensetzt. Doch einige dieser Figuren wirken stärker klischiert als andere: Olga Albizu, die manierierte, kunstbeflissene Ehefrau des Industriellen Tomás Ricart etwa, die glaubt, sie sei ihrer Zeit voraus, weil sie moderne Kunst sammelt. Sie hat der Autor genauso böswillig überzeichnet wie Marga, die Tochter aus gutem Hause, die sich für eine Revolutionärin hält, weil sie die neuesten französischen Filme kennt. Es fällt auf, dass Chirbes seine Frauenfiguren stärker denunziert als die Männer, denen er mehr Brüche zugesteht. Sogar Kommissar Arroyo erhält bei dem Autor einen Bonus – schließlich ist er nicht so potent, wie ein spanischer Macho zu sein hat. Dennoch wirkt das Mosaik, das am Ende entsteht, durchaus überzeugend – und das liegt nicht zuletzt an Chirbes' plastischer und ausgesprochen präziser Sprache. Aus historischen Begebenheiten einen Roman machen, das kann Rafeal Chirbes – neben Manuel Vázquez Montalbán ist er einer der großen literarischen Chronisten seines Landes.

Rafael Chirbes: „Der Fall von Madrid“. Aus dem Spanischen von Dagmar Ploetz. Verlag Antje Kunstmann, München 2000, 300 Seiten, 39,80 DM