Deine Spuren im Sand

Auf nahezu allen Kontinenten lauscht der Held dem Rauschen der Dünen und der Liebe nach: In seiner neuen Novelle „Die Wüste Lop Nor“ erweist sich Raoul Schrott als melancholischer Enthusiast der Sehnsucht und des Unterwegsseins

Drei Frauen, drei Geschichten, drei Wüsten, viel Sand. „Wenn eine Liebe zu Ende ist, wechselt man den Ort“ – ein Pinienzapfen, ein Cri-Cri und ein Stein erinnern Raoul Louper, Hauptfigur dieser Erzählung von Raoul Schrott, an die Begegnungen mit Francesca, Arlette und Elif. Raoul ist ein rastloser, neugieriger Mensch, ein Suchender und Schwärmer, darin ähnlich seinem Autor, der die Wüste liebt und sie häufig besucht, diesen Text aber in seinem Domizil in Irland geschrieben hat.

Er ist meines Wissens in den Abendstunden entstanden, jedenfalls zu einer Zeit, in der die Gedanken leicht und ruhig fließen. Das ist ihm auch wohltuend zu attestieren, denn so wie hier Raoul Schrott über den Schwung der Dünen, den Fall des Lichts und über die Klänge des Sandes schreibt, war das in dieser Form bisher nicht bei ihm zu lesen. Was er in 101 Kapiteln erzählt, besticht durch lyrische Stimmungsbilder und durch notathafte Wahrnehmungen und Deutungen des wissensdurstigen Intellekts gleichermaßen. Warum der Text als Novelle geführt wird, bleibt verborgen; es sind eher zu viele unerhörte Begebenheiten, sodass man ein Augenzwinkern bei der Gattungsbezeichnung zu spüren meint.

Auf nahezu allen Kontinenten hat Raoul Louper das Rauschen des Sandes gehört, in Dutzende von Flaschen hat er Proben abgefüllt. Sie haben die unterschiedlichsten Tönungen, ganz wie die Frauen, die Raoul zu lieben glaubte: „Die Frau, die er lieben könnte, würde grüne Augen und rotes Haar haben. Zwischen den Beinen wäre es heller, dicht bis zum Bauch, wie der Nacken des Feneks, dem er seinen halbvollen Napf unter die Bäume stellt.“ Ja, diese Frauen. Der Umgang mit ihnen verunsichert Raoul, lässt ihn in Einsamkeit versinken wie in gefährlichem Treibsand. Das Geheimnis der Frauen gleiche dem Geheimnis des Sandes, suggeriert der Text. Das Wandelbare, Flüchtige und Vergängliche sei eingeschrieben. Die Sehnsucht nach Liebe ist hier stärker als die Liebe selbst. Raoul reist um die Welt, arbeitet sich an den Oasen der Stille und den Dünen der Strände ab und kommt letztlich doch keinen Schritt weiter.

„Was man sicher weiß, das muß man auch in einer anderen Sprache, mit anderen Worten beweisen können.“ Vielleicht sucht Raoul deshalb Erklärungen im Reiben und Knirschen des Sandes, das dem Bellen eines Hundes, dem Anflug eines Kampfflugzeuges oder dem Stöhnen von Walen gleicht. Er lauscht dem Singen einer Düne, „dem Summen, Heulen und Stöhnen“ des Sandes in den Wüsten von Nevada, Libyen oder China, er buchstabiert die Töne des Windes und entwickelt mit seinem ungarischen Freund Török Theorien über die Entstehung von Sandseen und Stürmen. Beide sind unglückliche Liebhaber, die der Schönheit huldigen. Doch diese, so macht die Erzählung glauben, könne wie eine Fata Morgana in die Irre führen. Oder es ergehe einem wie der chinesischen Armee, die vom Sandsturm überrascht und begraben wurde. Raoul Louper erzählt seinen Freundinnen aber auch eine Geschichte über ein chinesisches Mädchen und ihre unerfüllte Liebe, die im Sand geschrieben steht, die der Sand hörbar macht. „Erzähl mir eine Geschichte, hatte Arlette gesagt. Was ist die schönste Geschichte, die du kennst? Erfind mir eine, egal, ob sie wahr ist.“

Wer seine Schatztruhe „Die Erfindung der Poesie“ (1997) geöffnet hat, kennt Raoul Schrotts Talent, sich fremde Stimmen anzueignen. Wer seinen Roman „Finis terrae“ (1995) gelesen hat, folgte ihm auf eine Reise durch Bewusstseinszustände und Wahrnehmungsstadien hindurch an die Küsten und Pole der Welt. Mit seiner jüngsten Arbeit „Die Wüste Lop Nor“ erweist sich Raoul Schrott als leicht melancholischer Enthusiast, der das Unterwegssein in den scheinbar unwirtlichsten Gegenden der Welt als Echoraum eigener und fremder Stimmen erlebt und die Sehnsucht und die Liebe dabei so elementar und überwältigend begreift wie einen Sandsturm in der Sahara. THOMAS KRAFT

Raoul Schrott: „Die Wüste Lop Nor“. Carl Hanser Verlag, München 2000, 127 Seiten, 28 DM