Nichts als Pöbel

Der letzte Amerikaner: In seinem Debütroman „Monument für John Kaltenbrunner“ erzählt der Schriftsteller Tristan Egolf von Mülldeponien, Kleinstädten und anderen heiligen Orten
von KOLJA MENSING

„Im Jahr 1987 mussten wir schockiert feststellen, dass noch niemand in einer Mülldeponie gegraben hatte um nachzusehen, was sich dort eigentlich genau befindet.“

(William Rathje, Archäologe und Leiter des „Garbage Projects“ an der Universität von Arizona)

Als die Ebony Steed Company kurz nach dem Zweiten Weltkrieg auf dem Gwendolyn Hill in der Nähe der Ortschaft Baker mit dem Abbau von Kohle begann, stießen ihre Arbeiter auf ein umfangreiches Reservoir amerikanischer Geschichtsabfälle: Kentucky-Gewehre, tote Indianer und Grassodenhäuser. Da das zuständige Amt für Denkmalschutz daraufhin jedesmal die Grubenarbeiten für zwei Monate einstellen ließ und so die Zukunft der Firma bedroht war, beauftragte der Aufsichtsrat den Mitarbeiter Ford Kaltenbrunner mit der Vertuschung der Funde.

Ford Kaltenbrunner beschäftigte sich von nun an allein damit, Eimer voller Pfeilspitzen, Planwagenräder und Knochen zu verstecken. Als er im Alter von 38 Jahren bei einem Unfall starb, hinterließ er ein Privatmuseum der amerikanischen Geschichte, von dem noch nicht einmal seine Frau etwas wusste, und einen ungeborenen Sohn, der drei Monate nach dem Tod seines Vaters im Krankenhaus von Baker zur Welt kam: John Augustus Kaltenbrunner. 18 Jahre später sollte John, und um ihn geht es hier eigentlich, den zweiten und ebenfalls recht hohen Hügel am Rande der Ortschaft Baker als Stützpunkt für die entscheidende Schlacht seines Lebens wählen: die Mülldeponie.

Auf den Mülldeponien warten die Überreste der Gegenwart darauf, Geschichte zu werden, die richtigen Orte also, um nach Romanstoffen zu suchen. In seinem Epos „Underworld“ (dt. 1998) hatte sich Don DeLillo darum durch die mythisch kontaminierten Ablagerungen amerikanischer Nachkriegsgeschichte gegraben, von oben nach unten allerdings, in umgekehrter Erzählrichtung. Der junge amerikanische Schriftsteller Tristan Egolf dagegen erzählt jetzt in seinem Debüt „Monument für John Kaltenbrunner“ mit barockem Gestus eine streng chronologische Heiligenlegende, die Geschichtes eines modernen Johannes des Täufers, der aus dem wüsten Farmland des mittleren Westens hervorsteigt, um eine ganze Stadt in einem See aus Müll und Unrat zu versenken. Er bleibt unverstanden von den vielen, die nicht verstehen wollen; er wird bewundert von den wenigen, die ihm auf seinem Wege folgen und die John Kaltenbrunners Geschichte für eine andere, bessere Nachwelt bewahren: „um eine Erklärung dafür zu finden, wie einer, der so jung und von so seltsamen Wesen war, jemals in unser Leben treten, alles komplett auf den Kopf stellen, und uns dann völlig überraschend sitzen lassen konnte, damit wir alles weitere selber herausfanden.“

Die Vita sancta des John Kaltenbrunner – Halbwaise und Hühnerfarmer, Vorbestrafter und Aufrührer, Müllmann und Streikführer – vollzieht sich vor dem Hintergrund der sündigen Ortschaft Baker. In der abgelegenen Industriestadt am Rand der Appalachen hat sich über mehr als 200 Jahre hinweg eine Art weiße, amerikanische Urgesellschaft erhalten: „Hier lebte von jeher nichts als Pöbel“, berichtet der von Tristan Egolf eingesetzte namenlose Chronist: „nachkartend, verleumdend, schlammschleudernd, sich in Schlägereien stürzend, über Unrat witternd, massenhaft Feindbilder aufbauend und die Frauen wie das Vieh ihres Nächsten über dem Waschbrett flachlegend . . .“

Im Innersten gehört God’s own country dem Teufel. Der Teufel allerdings ist, genauso wie Amerika, eine europäische Erfindung, und auch das weiß Tristan Egolf: Bakers weißes Gesindel beziehungsweise der white trash, wie die Amerikaner die nichtwiederverwertbaren Restressourcen der Mittelstandgesellschaft nennen, ist europäischer Müll vom Feinsten. Nach dem Unabhängigkeitskrieg kamen „entsprungene Sträflinge, emigrierte Analphabeten und mehrere tausend deutsche Söldner“ in den Ort. Sie vertrieben zunächst einmal systematisch die Shawnee-Indianer aus dem Tal und wurden dann, in der großen Einwanderungswelle des 19. Jahrhunderts ergänzt durch die „verarmte, ungebildete, vom Leben gedroschene Spreu der Bauernschaft“. Es sind Ausgestoßene, vor allem aus Deutschland und Skandinavien.

Tristan Egolf führt den Untergang des amerikanischen Gemeinwesens, der seit einiger Zeit von amerikanischen Kommunitaristen mit großem Elan diskutiert wird, auf seine verkommenen Fundamente zurück – und auf eine einfache These: Die Neue Welt ist auf den Abfällen der Alten gebaut, und so lauert allenthalben „hinter der Fassade christlicher Harmonie ein unerschöpfliches Reservoir an brodelnder Verachtung für den Nächsten“. – „Monument für John Kaltenbrunner“ tritt als last American novel auf: Das Ende des großen Kaltenbrunner’schen Müllstreiks ist nicht der Schlusspunkt einer ganzen Reihe von Katastrophen, sondern erst der Anfang, das an der kleinen Ortschaft Baker exemplifizierte Land Amerika ist zum Untergang verdammt.

Jenseits der literarischen Konstruktion wird wohl darum auch Europa derweil wieder zum Nährboden amerikanischer Mythen. Nachdem der 1971 geborene Tristan Egolf Mitte der 90er-Jahre zunächst als Punkmusiker erfolglos durch Amerika gezogen war, siedelt er schließlich mit den ersten Seiten eines Romanmanuskriptes nach Paris über. Er verdingt sich tagsüber als Straßenmusiker, schreibt abends in einem winzigen Einzimmerappartement, und als er schließlich die Tochter des französischen Romanciers Patrick Modiano kennen lernt, ist der Henry-James-Plot perfekt: Familie Modiano nimmt sich des jungen Schriftstellers an. Nach der 76. Ablehnung des Manuskripts durch amerikanische Verlage nimmt Modiano sich der Sache an, und innerhalb kürzester Zeit hat Tristan Egolf sechs Verträge mit verschiedenen europäischen Verlagen in der Tasche.

Inzwischen ist „Lord of the Barnyard“, so der Originaltitel, auch in den Vereinigten Staaten erschienen. Die Rezensenten loben pflichtgemäß die „wilde epische Energie“ des jungen Autors und widmen sich dann ausführlich den vermeintlichen Schwachstellen des Werkes: „In der zweiten Hälfte des Buches werden die Katastrophen erwartbar“, bemängelt Publishers Weekly. Darüber können wir Europäer nur lächeln: Alles wiederholt sich, wie die Geschichte so auch die Geschichten, dieser Gedanke ist ebenfalls Abfall aus unserer Produktion. Und wir wissen in Wirklichkeit auch, dass Tristan Egolf natürlich nicht der letzte amerikanische Novellist sein wird, dessen Ankunft wir in unserer, der schönen Alten Welt feiern werden. Nicht solange Amerika weiter in seinem Müll gräbt.

Tristan Egolf: „Monument für John Kaltenbrunner. Vom Schlachten des gemästeten Kalbs und vom Aufrüsten der Aufrechten“. Aus dem Amerikanischen von Frank Heibert. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2000, 501 Seiten, 49,80 DM