Bizarre Muster

Der Erzähler Tarek Dzinaj erliegt in seinem Debütband „müde“ einem Aussprechzauber – als solle ein großer Schrecken klein geredet werden
von JAMAL TUSCHICK

In einem Interview betonte er seine Unabhängigkeit: „Ich muss es keinem recht machen.“ Zumal im Hinblick auf die Literatur schließt Tarek Dzinaj, Jahrgang 1962, alle Kompromisse aus. „müde“ heißt sein erster Roman. Als Sohn eines Albaners aus Mazedonien und einer Deutschen in Landshut geboren, wuchs er in Istanbul heran, bevor er mit seinen Eltern nach Wasserlos in Unterfranken geriet. Er kennt Frankfurt. Heute lebt er in Berlin. Dzinaj ist auch Arzt. Dass er in Berlin praktiziert, provoziert ein Panorama, dem die literarische Moderne das Kolorit verpasst. Unwillkürlich denkt man an Döblin und Benn.

Diese steile Assoziation verfehlt den Text. Vorderhand ist „müde“ eine Burleske, von Handlung kaum gestrafft. Ein erzählendes Ich breitet sich darin mäandernd aus. Es mit dem Autor zu verwechseln geht bestimmt nicht zu weit. Ein gereizter Unterton spielt sich zu allem. Der Erzähler verehrt eine Ellen. Sie ist so wichtig, dass sie vom Anfang bis zum Ende des Buches Auftrittsmöglichkeiten erhält. Dem Erzähler ist sie nicht genauso gewogen wie er ihr. Sein ausdauerndes Scheitern an den Kalamitäten einseitiger Liebe teilt er in desperater Ironie mit: „Übrigens ist Ellen nie da, wenn man sie braucht, aber das Schöne an Ellen ist, dass sie auch nicht da ist, wenn man sie nicht braucht.“

Auf einer Nebenspur der Erzählung findet ein Roadmovie statt. Den Streckenverlauf bestimmt die Biografie eines Mannes, den wir als Vater des Ich-Erzählers kennenlernen. „Üsküb war der türkische Name einer mazedonischen Kleinstadt, aus der mein Vater stammte.“ Die Skizze seines Lebenslaufs ergibt ein bizarres Muster auf der Geografie Europas. Die Schraffur schwärzt das Mittelmeer, überzieht Nordafrika. Sie berührt Asien. Man denkt sich dabei einen Mutwillen am Saum komplizierter Verhältnisse. Der Stolz des Vaters, der früh und nicht unbedingt mit Begeisterung die Rolle eines Clanchefs übernimmt, will, dass allen Schwierigkeiten mit hochgestimmten Betrachtungen begegnet wird. Bloß nicht schlappmachen.

Aber was ist das für eine Welt, in der man überall nur davon- respektive dazu kommt? Gleicht sie nicht einem Alptraum, from which I‘m trying to awake . . . um ein Wort von Joyce abzuwandeln – und den Duktus anzudeuten, den Dzinaj für sein Debüt wählte. (Der Text ist voller fremdsprachlicher Einsprengsel.) Die Odyssee des Vaters hat im Sohn einen aufmerksamen Zeugen. Später, also jetzt, wird er berichten. „Berühmt waren Vaters Nachtfahrten. Die Achse Mailand-Venedig-Brindisi haben wir in der Nacht genommen.“ Der Erzähler erinnert sich an Delphinschulen im Mittelmeer. An spontane Autorennen in der libyschen Wüste, die er auf dem Beifahrersitz erlebt; an frühe Istanbuler Ausblicke. „Ich saß als Dreikäsehoch auf einem Barhocker im Cinar Hotel in Yesilyurt.“ Der Vater verstand es, eine ärztliche Praxis mit Gemüsehandel zu verbinden: „In aller Frühe verfiel er den lieblichen Terzinen der lockenden Grossisten.“ Er führte den Knaben in „die räumliche Tiefe, (zu dem) unendlichen, zu Türmen hochgezogenen Warenangebot“ der Frankfurter Großmarkthalle.

Die Handlungsgegenwart vollzieht sich in Frankfurt, wo der Erzähler dem Spiel mit kulturellen Differenzen wie einer Hauptbeschäftigung nachgeht. Er liebt es, die Dinge beim Namen zu nennen – so wie man ein Tier lockt. Er scheint einer Art Aussprechzauber zu erliegen. Eine Option zur Verkleinerung der Tatsachen liegt darin. In diesem inneren Monolog läuft viel auf Verniedlichung hinaus. Als sollte ein großer Schrecken klein geredet werden.

Tarek Dzinaj: „müde“. Axel-Dielmann-Verlag, Frankfurt a. M. 2000. 123 Seiten, 28 DM