Mutmaßungen über MM

Joyce Carol Oates hat mit „Blond“ die bislang glaubwürdigste Biografie über Marilyn Monroe geschrieben – und zugleich perfekte Fiktion. Das Buch ist auch eine Studie einer verletzten, schönen Oberfläche: Dorian Gray im Spiegel von Hollywood
von HARALD FRICKE

Der Tod kommt auf einem Fahrrad. Man kann ihn vor sich sehen, als Comicfigur, wie er mit heraushängender Zunge die letzten steilen Kurven nach oben nimmt, an Palmen und Villen vorbei, bis er das Haus erreicht. „12305 Helena Drive, Brentwood Kalifornien USA Erde“ steht auf dem Päckchen. Es ist der 3. August 1962, und die Post geht an Marilyn Monroe. Sie muss die letzte Lieferung nur noch annehmen, dann hat der liebe Bote seine Ruhe für diesen Tag: „Als ich Name und Anschrift las, musste ich lachen, und ich unterschrieb ohne Bedenken.“ Sie war ein gutes Mädchen, offenbar.

Joyce Carol Oates hat das Ende ihrem 900 Seiten umfassenden Roman vorausgeschickt. In „Blond“ erzählt sie manchmal sehr eng an der Biografie, dann wieder traumhaft weit weg die Geschichte der Monroe. Es ist ein glanzvoller Weg vom Waisenhaus in die Studios der 20th Century Fox bis in die Arme von Clark Gable, den sie sich schon als Kind so sehr zum Vater wünschte; es ist ein erbärmlicher Weg, durch Produzentenbetten und Depressionen. Zum Schluss waren es 40 oder 50 Tabletten, Nembutal in einer Konzentration von 4,5 mg % im Blut. Auch dieses Ende ist bekannt, es kommt gar nicht vor bei Oates, weil es selbst Legende ist, seit 38 Jahren.

Alle Welt weiß, wie Marilyn Monroe gestorben ist. Wie sie mit Schlaftabletten Selbstmord begangen hat oder vom CIA umgebracht wurde, nachdem sie eine Affäre mit John F. und mit Robert Kennedy und mit Castro und Chrustschow gehabt haben soll. All diese Sätze, ob akribisch nachrecherchiert oder aus Klatschzeitungen abgeschrieben, sind wieder und wieder in Büchern, Theaterstücken, Erinnerungen und Dokumentationen zu lesen gewesen, um zu ergreifen, um zu berühren, um für einen Moment die Monroe beim Lesen zurück ins Leben zu holen. Warum also, wird sich Joyce Carol Oates gedacht haben, das ganze Drama aus Kaputtheit und Verzweiflung nicht noch einmal aufschreiben?

Norman Mailer hat es anders versucht. 1973 schrieb er seiner Biografie an den Anfang: „Also gedenken wir Marilyns, die jedermanns Liebschaft mit Amerika war.“ Das klingt ziemlich groß und geschwollen, auch nach Kitsch, und es passt zu jener Monroe, wie sie im gleichen Jahr von Elton John als „Candle in the wind“ besungen wurde, bevor er das Lied dem Tod einer anderen Blondine widmete. Keines dieser staatsbegräbnisartigen Klischees kommt einem dagegen in den Sinn, wenn man Oates' Annäherung liest – vielleicht, weil die inzwischen 61-jährige US-Schriftstellerin überhaupt Probleme mit Bildern hat, die man sich von einer Person machen könnte, die als Ikone schlechthin für dieses oder jenes Amerika hergehalten hat. Marilyn als Pin-up im Spind von GIs beim Rock-'n'-Roll-Kriegsspiel in Korea, als Gipsbüste mit fliegendem weißen Rock in Hamburger-Läden und Shopping Malls; aber auch als warholeskes Poster oder als blonde Perücke und perfekte Oberweite, mit denen sich ein Transvestit zum Christopher Street Day behängt hat.

Die Monroe von Joyce Carol Oates ist das alles auch. Trotzdem fällt es im Roman nicht ins Gewicht, weil sich ihrer Marilyn selbst die Utensilien, Reize, Zeichen nur wie Schminke aufgetragen hat. Die Times schrieb vom „feuchten, animierenden Blick“, von ihrem „feuchten, halb geöffneten Mund“, und es sollte ein Kompliment sein, ein Hohelied auf die Weiblichkeit. Und Billy Wilder erzählte immer wieder ausgiebig die Geschichte von den Dreharbeiten zu „Manche mögen's heiß“, als sich Sugar Kane Monroe nicht einmal den Satz „Where is the Bourbon?“ merken konnte. Es war die späte Rache des Regisseurs, und wer wollte, dem erzählte Wilder auch, dass Tony Curtis sie nach einer Liebesszene mit Hitler verglichen habe.

Natürlich hat auch Oates diese Anekdoten mit eingebaut. Doch bei ihr wird dadurch die Verschmelzung von Schein und Realität nur umso perfekter, zum O-Ton der Literatur. Oates löst den Mythos nicht auf, sie zeigt, wie sehr der Mythos selbst zur Identität wurde für Monroe: eine Schutzschicht, die Eigenleben entwickelte; ein Symptom, das sie doch nie zu lieben gelernt hat. Der Glamour, die Trivialität ihrer Rollen, das in Wellen den Körper durchzitternde Gefühl der Minderwertigkeit, die Angst, als ungebildetes Mädchen verlacht zu werden, gerade wegen des enormen Sex-Appeals, der zwar für „Miss Golden Dreams 1949“ reichen würde, nie aber zu einer Dostojewski-Figur auf der Bühne – alles echt, und doch in den Fantasien der Öffentlichkeit zur Unkenntlichkeit ausgeschmückt. Von Agenten und der Boulevardpresse, selbst von Arthur Miller, ihrem letzten Ehemann, der versprochen hatte, sie nie als Vorbild in einem seiner Stücke zu verwenden, und der im Drehbuch für „The Misfits“ Roslyn so konstruierte, wie er seine Marilyn sah. In einer Szene des Films muss sie sich an einer Schranktür vorbeizwängen, die vollgepinnt ist mit Fotos von MM. Das war ein Witz, den sich Regisseur John Houston mit seiner Hauptdarstellerin machen wollte. Vielleicht hat sie darüber sogar lachen können. Sie war nur selten bei sich selbst.

Oates schneidet tief in solche Situationen hinein, wenn sie sie wiederholt. Jede Verletzung, jede Entwürdigung vom jungen Starlet Norma Jeane bis zur gereiften Monroe ereignet sich nur für den Augenblick und schwelt doch Kapitel später noch unverarbeitet im Text als Erinnerung weiter. MM mag vergessen, Oates nicht. Immer wieder werden dann nach einer Vergewaltigung die ausgestopften Tiere im Privatgemach des Produzenten Z – wie Zanuck – als stumme Zeugen zitiert, während Marilyn den Vorfall bei jeder neuen Begegnung mit dem Filmboss überspielt oder womöglich schon längst verdrängt hat. Oates lässt diese Fährten der Psychologie offen, als wollte sie den Leser mit ganzer Brutalität daran gewöhnen, wie alles Leben unter dem Druck aus Professionalität und Routine eingeebnet wird, bis die Oberfläche von feinen Rissen übersät ist.

Schubweise kippt die Biografie von immer triumphaleren Filmauftritten in die Verzweiflung über die beschädigte Existenz um. So werden bei Oates die ungeheuren Deformationen Monroes physisch beschrieben, die während der letzten Fotosession mit Bert Stern für alle Zeit sichtbar geworden sind: Die scharfen Krähenfüsse um die Augenpartie, die Furchen in ihrer papierdünnen Haut, das irre Lachen, das das Gesicht nicht mehr zusammenhält – Dorian Gray in Hollywood. Zumindest erscheint einem irgendwann plausibel, dass neben den Filmskripten Schopenhauer und Pascal auf ihrem Nachtisch gelegen haben . . . könnten?

Schon aufgrund all dieser verschlungenen Details ist „Blond“ die bislang glaubwürdigste Biografie Marilyn Monroes und zugleich völlige Fiktion: „unbedingt als Roman zu lesen“, wie der Verlag in der Einleitung beschwichtigend vorgreift. Damit schafft Oates wiederum Platz für die Wirklichkeit des Erzählens, so wie sie zuletzt in „Schwarzes Wasser“ einen Autounfall des betrunkenen Senators Edward Kennedy von 1969 durch Literarisierung, nun ja, realisierte.

Aber auch die Vielschreiberei der Autorin scheint ihr bei der Arbeit an „Blond“ sehr gelegen gekommen zu sein. Oates bewegt sich nicht bloß sicher auf dem historischen Terrain hinter der Biografie, sie kann selbst die Erzählstile der jeweiligen Phasen im Leben von Monroe mit übersetzen. Plötzlich dichtet eine bis dahin jugendlich unbedarfte Marilyn stilsichere Lyrik in ihr Tagebuch, die Oates wiederum bei Emily Dickinson abgeschrieben hat. Und irgendwann setzt sich eine Passage über einen Heckenschützen, der sich Monroe an die Fersen geheftet hat, aus Freuds „Unbehagen in der Kultur“ zusammen.

All das sind Momente, in denen die Literaturprofessorin mit Lässigkeit ihren Gegenstand mit Textsampling grundiert. Der Rhythmus entsteht dennoch aus einer Kreisbewegung, zu der Oates stets zurückkehrt. Es ist der Spiegel, vor dem sich die kleine Norma Jeane jedesmal aufs Neue zum Filmstar verwandelt. Der Spiegel, in den bereits das sechsjährige Kind schaut, um sich das Bild einer Frau zu wünschen, die so ist wie ihre Mutter, die sich selbst immer gewünscht hatte, Filmstar zu sein. Und an der Uneinholbarkeit dieses Images verrückt wurde. Marilyn, das merkt man mit jedem neuen Spiegelstadium, das Oates vorführt, knickt ein, weil sie nie die auf der anderen Seite wiederfindet, von der sie glaubt, dass sie besser an ihrer Statt vor dem Spiegel sitzen müsste. Das mag kompliziert klingen, nach 900 Seiten „Blond“ ist man allerdings gerne bereit, der Monroe auch hinter den Spiegel zu folgen. Vielleicht hält der Tod dort die besseren Rollen parat.

Joyce Carol Oates: „Blond“. Aus dem Amerikanischen von Uda Strätling, Sabine Hedinger und Karen Lauer. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2000, 912 Seiten, 49,90 DM