Leerer Stuhl in Frankreichs Kabinett

Arbeitsministerin Aubry räumt ihren Posten. Ihre Rückkehr nach Paris will sie von Lilles Rathaus aus vorbereiten

PARIS taz ■ Frankreichs Premierminister Lionel Jospin ist gestern einsamer geworden. Der lang angekündigte Rücktritt seiner populären Arbeitsministerin Martine Aubry (PS) hinterlässt eine rot-rosa-grüne Regierung, in der politische Schwergewichte rar geworden sind. Wenige Monate vor den Kommunal-, Parlaments-und Präsidentschaftswahlen ist von den sozialistischen Stars nur Elisabeth Guigou übrig. Die wechselte gestern von der Spitze des Justizministeriums in Aubrys Ministerium, das viele ein „Terrain voller Tretminen“ nennen.

Offizielle Begründung für den Rücktritt ist Aubrys Kandidatur bei den Kommunalwahlen in Lille. Die 50-Jährige will dort im nächsten März Bürgermeister Pierre Mauroy ablösen. Lille ist ein sicheres sozialistisches Terrain. Dank dem TGV ist Lille nur eine Zugstunde von Paris entfernt. Für Aubry, die ursprünglich wie ihr Vater Jacques Delors den proeuropäischen Christsozialen nahe stand und sich erst im Lauf ihrer dreieinhalb letzten Ministerinnenjahre einen Ruf als Linke verschaffte, ist das praktisch. So kann sie ihre Rückkehr in die Hauptstadt vorbereiten. Aubry ist dort für mehrere Spitzenämter im Gespräch. Sollte Jospin 2002 Präsident werden, gilt sie als potenzielle Premierministerin. Fünf Jahre später wäre sie selbst eine mögliche Präsidentschaftskandidatin.

Die gestrige Regierungsumbildung kam zu einem Zeitpunkt, da die Dossiers, die Aubrys Namen tragen, rechts wie links umstritten sind: von der 35-Stunden-Woche über Mini-Jobs für Jugendliche bis zur „Reform“ der Arbeitslosenversicherung. Nur das Absinken der Arbeitslosigkeit auf unter zehn Prozent gilt als Verbesserung. Ob das aber auf dem Haben-Konto der Regierung oder auf jenem eines Wirtschaftswachstums zu verbuchen ist, wird kontrovers diskutiert.

Die Arbeitgeber bekämpfen die Arbeitszeitverkürzung, weil sie viele kleine und mittlere Betriebe in Bedrängnis bringt. Ab Anfang 2002 müssen auch Betriebe unter 20 Beschäftigten die 35-Stunden-Woche einführen. Die Patrons behaupten, dazu seien sie nicht in der Lage.

Die Gewerkschaften bemängeln, dass die Arbeitszeitverkürzung nicht die zugesagten mehreren hunderttausend neuen Arbeitsplätze gebracht hat. Die Reform habe einer hohen Flexibilisierung des Arbeitslebens Tür und Tor geöffnet und Tarifverträge zunichte gemacht.

Bei den Mini-Jobs für arbeitslose Jugendliche wird es erst 2002, wenn die ersten der auf fünf Jahre befristeten Verträge auslaufen, brenzlig. Bislang hat sich die Regierung keine Fortsetzung der Maßnahmen ausgedacht, die jährlich 22 Milliarden Franc kosten. Vereine, Initiativen und Behörden setzen darauf, dass der Staat die als Einstieg in feste Arbeitsverträge konzipierte Maßnahme verlängert.

Umstritten ist Aubrys Rolle bei der Reform der Arbeitslosenversicherung. Seit sieben Monaten stehen Arbeitgeber und die sozialdemokratische Gewerkschaft CFDT der Mehrheit der Gewerkschaften gegenüber. Aubry schaffte es nicht, in diesem Konflikt zu vermitteln. In Zukunft kann sie von Lille aus den absehbaren heftigen Auseinandersetzungen zuschauen. Und die Anfänge der Arbeitszeitverkürzung, die Aubry in dieser Form gar nicht wollte, werden ihren Namen schmücken – und Aubry für Linke in Erinnerung halten. DOROTHEA HAHN