Elternersatz und Sozialamt

Zwei Schulen, zwei Bildungswege: Wie Lehreinrichtungen in den USA versuchen, mit wenigen Mitteln das Beste zu geben

aus Washington PETER TAUTFEST

„Nehmt an, ihr hättet die Tasche voller Münzen: Pennies, Nickels und Dimes. Ihr greift in die Tasche, holt drei Münzen hervor, wie viel verschiedene Beträge könnt ihr in der Hand halten?“, fragt Mrs. Coolidge, eine weißhaarige schwarze Lehrerin an der H. D. Cooke School in Washington ihre 5. Klasse. Die Kids schauen scheu auf und sehen sich ratlos an. Nur langsam kommt Leben in die Tischgruppen. Es wird gezeichnet, getuschelt, gemalt, kombiniert, gelacht. „Ruhe!“, herrscht Mrs. Coolidge ihre Schüler an. An der Wand hängen drei große Plakate: Regeln für den Unterricht, Regeln für den Pausenhof, Regeln für die Hausaufgaben. Die wichtigste Regel ist, still zu sein. „Ich habe neun Kombinationen“, platzt es aus Phantasia heraus. „Ich schon vierzehn“, ruft Juaquin dazwischen. Mrs. Coolidge beendet die Diskussion: „Es gibt neun.“

Der Drill beginnt in der ersten Klasse. Allein die Anwesenheit von Ms. Shah genügt, um die Kinder zum Schweigen zu bringen. Sie raunt einen Schüler an: „Hat Ms. Shah etwas von Buch aufschlagen gesagt?“ Auf dem Stundenplan steht heute Patriotisches. „Wo tut man seine Hand beim Fahneneid hin?“ Die Kinder sind irritiert. „Hier, über das Herz, und den Blick richtet man zur Fahne! Also noch mal.“ Die Kinder brüllen im Chor: „Ich gelobe Treue der Fahne und der Republik, für die sie steht.“

Mrs. Thompson ist eine lang gediente Lehrerin und hat heute Pausenaufsicht im Hof. Sie hält einen Jungen in ihren Armen, der sich mit anderen Kindern gestritten hat. „Mir gefällt dein Gesicht nicht“, sagt sie. „Du bist zornig, nicht wahr? Aber ich will nicht, dass du in Schwierigkeiten gerätst, hörst du?“ Sie wiegt ihn weiter in ihren Armen und schickt die anderen Kinder, mit denen er sich gestritten hat, fort. „Diese Kinder hier brauchen sehr viel Struktur“, sagt sie später, „zu Hause bekommen sie allenfalls eine Ohrfeige. Die Strenge an dieser Schule bietet diese Strukturen. Auch wenn sich Mrs. Thompson manchmal wünscht, mit weniger Disziplin und Drill auszukommen.

Der macht auch vor dem gemeinsamen Essen nicht Halt: Die Kinder betreten in Reih und Glied den Kantinenraum im Keller. Keinen Mucks geben sie von sich. Schweigend sitzen sie dicht gedrängt auf langen Bänken an langen Tischen und holen sich nacheinander klassenweise ihr Essen.

Die H. D. Cooke School, benannt nach Washingtons erstem schwarzem Gouverneur, steht in einem mehrheitlich von Immigranten und Flüchtlingen aus Mittelamerika bewohnten Stadtteil. „61 Prozent der Jugendlichen sprechen zu Hause eine andere Sprache als Englisch“, sagt die Direktorin der Schule, Dr. Bonner. „Alle Kinder bekommen in der Schule Frühstück und Mittagessen, die Eltern leben an der Armutsgrenze, viele sind illegal hier.“

In die über 100 Jahre alte Schule führen zerborstene Treppenstufen. Die Situation ist schwierig, aber nicht gänzlich ohne Hoffnung. Auch wenn die Farbe von den Wänden blättert und die Fenster schon vor Jahren ersetzt werden sollten. Kinder, die kein Englisch können, lernen in besonderen Klassen und manchmal im Einzelunterricht Englisch. Und in jedem Klassenzimmer stehen mehrere bunte iMacs. In manchen Klassen kommt Mrs. Mabry dazu und arbeitet den Unterrichtsstoff mit den spanischsprachigen Kindern auf. Manchmal bildet sie mehrere Tischgruppen, die nach Sprachkenntnissen und Leistung gestuft arbeiten. Im Idealfall ist für jeden Tisch eine Lehrerin oder ein „Volunteer“ da, jemand, der ehrenamtlich in der Schule arbeitet – eine Studentin, ein Elternteil, ein Pensionär.

„Die freuen sich über jede Aufmerksamkeit und Zuwendung“, sagt Mrs. Mabry, „sie sind so bedürftig.“ Was sie tun würde, wenn sie plötzlich viel Geld für die Schule hätte? Mrs. Mabry überlegt: „Dafür sorgen, dass wir hier auch begabten und talentierten Kindern etwas bieten können, damit wir nicht nur die ärmsten und schwächsten Kinder haben. Während wir um sie kämpfen, verlieren wir die anderen.“

Rockville, Maryland. Ein typischer amerikanischer Vorort, in den weiße Eltern der Mittelklasse vor den Unannehmlichkeiten der Großstadt fliehen. Doch die Wirklichkeit Amerikas lässt sich auch hier nicht mehr wegleugnen – auch an den Schulen nicht. Mr. Kelsh ist Direktor an der Richard Montgomery High School. „Wir haben hier die typischen Probleme innerstädtischer Schulen“, sagt Mr. Kelsh. Sechzig Prozent der Schüler gehören Minderheiten an, zwanzig Prozent der Kinder sind auf Schulspeisung angewiesen. Auf den Gängen der Richard Montgomery High School, auf denen die Jugendlichen alle fünfundvierzig Minuten genau sieben Minuten Zeit haben, sich aneinander vorbei in einen neuen Fachraum zu drängeln, werden vierzig verschiedene Sprachen gesprochen.

Dennoch geht es der Schule im Vergleich zur H. D. Cooke School in Washington sehr gut. Der Montgomery County, zu dem die Richard Montgomery High School gehört, ist im Begriff, zu „Genome Junction“ zu werden, zum Zentrum von bio- und medizintechnischer Entwicklung. Fachleute aus aller Welt kommen hierher – Chemiker, Biologen und Softwareingenieure. Die Schule profitiert von den gut erzogenen und gebildeten Kindern dieser Eliten. Anders als in Washington kommen in seine Schule die Kinder von Besserverdienenden. Das liegt auch an den guten Bildungsangeboten: Die Richard Montgomery High School bietet so genannte Advanced-Placement-Kurse an und den so genannten Honor Roll für leistungsstärkere Schüler. Es gibt Werkstätten, in denen ein technisches Handwerk erlernt werden kann. Manche Jugendliche kommen morgens zur Schule und gehen nachmittags im Rahmen eines „on the job trainings“ arbeiten. Zusätzlich können die Kinder am International Bacalaureate (IB) teilnehmen, ein Unterrichtsprogramm, das mit einer dem Abitur vergleichbaren und international anerkannten Abschlussprüfung endet. „Wir sind eine öffentliche High School“, sagt Mr. Kelsh. „Wir nehmen jeden Jugendlichen und haben für jeden etwas.“

Anja will vom IB-Programm profitieren. Die Tochter weißrussischer Einwanderer spricht fließend Englisch und Russisch. Sie lernt Latein und zwei moderne Fremdsprachen. Abends liest sie ihrem kleinen Bruder russische Kinderbücher vor, damit er die Sprache nicht verlernt.

Aber den Eliten folgten jene, die für die neuen Unternehmer und deren Fachkräfte Dienstleistungen erbringen, wie die Eltern von Rodriguez aus Guatemala. Rodriguez hat kaum Zeit für Hausaufgaben. Er muss seinen Eltern helfen, mit den Anforderungen einer englischsprachigen Welt zurechtzukommen. Neben der Schule macht er ein Praktikum bei einem Gartenbaubetrieb.

Zusammen mit zwei benachbarten Landkreisen im Umland Washingtons gehört Montgomery County zu den drei am schnellsten wachsenden Schulbezirken in Amerika. Um ein Drittel ist die Zahl der Schüler von 1988 bis 1998 gestiegen. Der County musste dieses Jahr 1.200 neue Lehrer einstellen. Mr. Kelsh und Dr. Bonner brauchen vor allem eins für ihre Schulen: Geld. Immerhin: Montgomery County verfügt über hohe Steuereinnahmen und hätte das Geld, die Schulen besser zu unterstützen. Washington dagegen fehlt der finanzielle Spielraum.

Der Präsidentschaftskandidat George W. Bush will Schulen in freier Trägerschaft fördern und den Eltern von Kindern an öffentlichen Schulen Vouchers genannte Gutscheine finanzieren, damit sie ihre Kinder auf Privatschulen schicken können. „Ich würde auch Kinder nehmen, die mit einem Voucher kommen“, sagt Mr. Kelsh. Er führt zwar keine Privatschule, weiß aber um den guten Ruf seiner Schule. Für Dr. Bonner von der Washingtoner H. D. Cooke School wäre es dagegen mit Vouchers noch schwerer, guten Unterricht zu garantieren: „Für jedes Kind, das geht, verliere ich Geld und vielleicht einen guten Schüler.“

Am liebsten wäre ihr, die Politiker würden die Schule aus dem Wahlkampf herauslassen und nicht mit ständig neuen Anforderungen kommen. „Wir haben genug zu leisten“, sagt sie. „Wir sind Elternersatz und Sozialamt, wir speisen die Kinder und organisieren ihre medizinische Versorgung. Gerade haben wir ein taubstummes Kind aufgenommen und müssen nun einen Lehrer für das Mädchen finden, aus unserem Budget.“

Im Gang der H. D. Cooke School hängt ein Brief eines ehemaligen Schülers, eines Robert McFarlane. Der war enger Mitarbeiter von Ronald Reagan. „Neulich hat er uns besucht“, sagt Dr. Bonner. „Er hat seine Schule kaum wieder erkannt.“ McFarlane schreibt: „Ihr könnt alles erreichen, was ihr wollt, wenn ihr euch nur anstrengt.“