Offene Wunden

Schwulen- und Lesbenschicksalen in der NS-Zeit widmet sich der Film „Paragraph 175“  ■ Von Jakob Michelsen

Zu Beginn des Films klappt ein alter Mann sein Fotoalbum zu; er will vor der Kamera nichts erzählen und nichts mehr mit der Vergangenheit zu tun haben. Fünf andere Zeitzeugen und eine Zeitzeugin konnte der Historiker Klaus Müller jedoch ausführlicher über ihr Leben und Überleben als Schwule bzw. als Lesbe unter dem NS-Regime befragen. Die so entstandene Dokumentation Paragraph 175 von Jeffrey Friedman und Rob Epstein (The Times Of Harvey Milk, The Celluloid Closet) wurde auf der Berlinale preisgekrönt und ist nun bei den Lesbisch-Schwulen Filmtagen zu sehen.

Nur stichwortartig wird der historische Rahmen abgesteckt: die vergleichsweise liberalen 20er Jahre und die frühe Homosexuellenbewegung; die Feindschaft der NSDAP gegen diejenigen, die ihre Sexualität nicht in den Dienst der Produktion „arischen“ Menschenmaterials stellten; die brutale Verfolgung schwuler Männer insbesondere nach der Verschärfung des Paragraph 175 im Jahre 1935; die verdecktere Verfolgung von Lesben.

Im Zentrum stehen jedoch die Geschichten der Interviewten. Während der spätere Hamburger Filmarchitekt Albrecht Becker mit einer „normalen“ Gefängnisstrafe davonkam, waren der Berliner Pfadfinderführer Heinz Dörmer, der junge Elsässer Pierre Seel und Heinz F. jahrelangen Torturen in verschiedenen Konzentrationslagern ausgesetzt. Die Jüdin Annette Eick und Gad Beck, der von den Nazis als „Halbjude“ eingestuft wurde, waren doppelt bedroht und bekamen den Antisemitismus noch vor der Homosexuellenverfolgung zu spüren. Während Eick nach Großbritannien fliehen konnte, überlebte Beck in einer zionistischen Widerstandsgruppe im Berliner Untergrund.

Die leidvollen Lebenswege und die Wunden, die allen Befragten durch den deutschen Faschismus zugefügt wurden, werden eindringlich vor Augen geführt; Paragraph 175 dürfte daher seinen Zweck, einem breiten Publikum das Thema Lesben- und Schwulenverfolgung unter dem NS-Regime nahezubringen, erfüllen. Wer jedoch mit Vorkenntnissen in diesen Film geht, wird eher enttäuscht sein: Mit Ausnahme derjenigen von Heinz F. sind alle hier vorgestellten Biographien bereits ausführlicher gedruckt erschienen. Problematisch ist, dass durch die Gewichtung der irrige Eindruck entstehen kann, KZ-Haft sei das typische Schicksal homosexueller Männer im „Dritten Reich“ gewesen. Andere Aspekte der Lebenswirklichkeit unter dem Terror-Regime, die viel mehr Menschen betrafen, wie Zuchthaus, erzwungene Kastrationen und die alltägliche Angst, kommen vergleichsweise etwas kurz.

Insgesamt erreicht Paragraph 175 nicht den Facettenreichtum von Verzaubert (1993), des bislang besten Dokumentarfilms über die Lebensläufe von Lesben und Schwulen vor, während und nach der NS-Zeit, der bei den Lesbisch-Schwulen Filmtagen ebenfalls wieder zu sehen war. Dort ist nicht nur das Geschlechterverhältnis ausgewogener, die Verfolgungserfahrungen der Interviewten werden zudem in einen vielschichtigen Kontext eingebettet, der unter anderem – ohne jede intellektuelle Überfrachtung – die Frage nach Identitäts- und Lebenskonzepten einschließt. Friedman und Epstein setzen hingegen vordergründiger auf die emotionalisierende Wirkung der gezeigten Schicksale. Nur an wenigen Stellen graben sie tiefer: So wird die Geschichte des Widerständlers Gad Beck durch entsprechende Schnitte unaufdringlich, aber deutlich derjenigen Albrecht Beckers gegenübergestellt, der nach der Entlassung aus dem Gefängnis freiwillig zur Wehrmacht ging. Er habe unter Männern sein wollen, sagt er , außerdem habe die Armee für ihn „Ehre, Würde und Gerechtigkeit“ bedeutet: „Was die Nazis nachher draus gemacht haben, hast du vorher nicht gewusst.“ Vermutlich mischt sich hier die Kompensation des Stigmas der „Unmännlichkeit“ mit dem, was viele deutsche Männer dachten.

Die schändliche Tatsache, dass die wegen Homosexualität Verfolgten bis heute nicht rehabilitiert und entschädigt worden sind, ist von den übrigen Kontinuitäten deutscher Geschichte nicht zu trennen: Die gesellschaftliche Ächtung von Lesben und Schwulen bestand nach der Befreiung fort, die NS-Fassung des § 175 galt in der BRD bis 1969 weiter und wurde 1957 höchstrichterlich für verfassungsgemäß erklärt. Eine Hamburger Bundesratsinitiative, die zum Ziel hatte, wenigstens die zwischen 1935 und 1945 ergangenen Urteile nach § 175 und § 175a Absatz 4 (männliche Prostitution) pauschal aufzuheben, fand bisher unter den Bundesländern keine Mehrheit. Die Filmvorführung, mitveranstaltet von der GAL-Bürgerschaftsfraktion und in Anwesenheit der Justizsenatorin Lore-Maria Peschel-Gutzeit (SPD), soll dieser Forderung Nachdruck verleihen. Von den Urteilen nach 1945, die nicht selten von denselben Richtern mit Hilfe derselben medizinischen Gutachter und aufgrund derselben Paragraphen gefällt wurden wie unter dem Nazi-Regime und von denen auch der Film-Zeitzeuge Heinz Dörmer noch mehrmals betroffen war, ist in der Bundesrats-Initiative nicht die Rede.

Sonntag, 15.30 Uhr, Studio