Unbekanntes Wesen

NGOs werden gern als der meistüberschätzte politische Akteur der Neunzigerjahre bezeichnet. Bei der Beurteilung ihrer Arbeit ist weder hehre Idealisierung noch Verteufelung angebracht. Eine Typisierung wäre hilfreich

von BARBARA UNMÜSSIG

Der Blick auf sie ist selten nüchtern und differenziert: Sie werden mit hochfliegenden Errwartungen konfrontiert und zu Hoffnungsträgern stilisiert oder zu nützlichen Idioten in der Sozial- und Entwicklungspolitik degradiert. Nichtregierungsorganisationen (NGOs) gelten den einen als Störenfriede der Globalisierung oder als „herrschaftsgefährdend“, für andere sind sie zu einem wichtigen Akteur aufgestiegen, der einen produktiven Beitrag zur politischen Steuerung in Zeiten der Globalisierung leisten soll.

Den europhisierenden Hymnen auf den Stern am (Medien-)Himmel folgt teilweise harsche Kritik, vor allem aus Teilen der linksradikalen Szene, die NGOs vornehmlich als „Systemstabilisierer“ und als Erfüllungsgehilfen neoliberaler Globalisierung sehen. Aber auch Parlamentarier in Nord und Süd sehen in NGOs nicht legitimierte Akteure, die vor allem der weiteren Entdemokratisierung nationaler und internationaler Entscheidungsprozesse weiteren Vorschub leisten oder öffentliche Gelder aus den nördlichen Entwicklungshilfeetats an den nationalen Budgets der Entwicklungsländer vorbeischleusen.

Weder Idealisierung noch Verdammung werden dem „Phänomen NGO“ gerecht. Für jede der genannten Einschätzungen – ob überschwänglich, skeptisch oder ablehnend – lässt sich jeweils genügend empirisches Material zusammentragen. Schließlich gibt es weltweit mehrere zehntausend NGOs und kennzeichnendes Merkmal ist die Unterschiedlichkeit in ihren jeweiligen gesellschaftlichen Funktionen. NGOs wie Greenpeace, amnesty international oder wichtige Geldgeber im Entwicklungs- und Umweltbereich (Oxfam, WWF) lassen sich nicht in einen Topf werfen mit kleinen spezialisierten politischen „pressure groups“ oder „Einpunktorganisationen“. Zu unterschiedlich sind ihre Interessen, Wertvorstellungen und Organisationsstrukturen, zu unterschiedlich auch die Problemfelder, die sie im nationalen und internationalen Kontext bearbeiten.

Eine große Unterscheidungskategorie innerhalb der vielstimmigen Gruppe der NGOs ist ihr Verhältnis zur staatlichen und zwischenstaatlichen Politik. Uneingeschränkt ist Sozial- und Politikwissenschaftlern zuzustimmen, die – jenseits des pauschalierenden Blicks – auf eine Differenzierung des NGO-Begriffs und auf eine inhaltliche und organisatorische Typisierung von NGOs drängen. Eine Typisierung, die sich mit der jeweiligen gesellschaftlichen Funktion der Organisationen und mit ihrem Einfluss auf politische Entscheidungsprozesse sowie mit ihrer normativen und inhaltlichen strategischen Ausrichtung befasst.

Tatsache ist jedenfalls, dass ein breites thematisches und politisches Spektrum zivilgesellschaftlicher Gruppen im Raum zwischen Markt und Staat zu agieren versucht. Einige Typisierungen von NGOs liegen allerdings vor, und eine der wichtigsten Unterscheidungen ist die zwischen „technischen“ und „politischen“ NGOs.

Vor allem solche NGOs, die Entwicklungshilfeprojekte durchführen oder bei der Katastrophenhilfe zum Einsatz kommen, sind in den letzen beiden Jahrzehnten wie die Pilze aus dem Boden geschossen. Ein Report der Vereinten Nationen von 1995 schätzte die Zahl international tätiger NGOs auf 29.000. In Ländern wie den Philippinen oder Peru gibt es mehrere tausend NGOs, die auf nationaler beziehungsweise regionaler Ebene agieren. Und allein in Russland sind binnen zehn Jahren nach dem Niedergang des Eisernen Vorhangs mindestens 65.000 NGOs entstanden.

Nehmen wir die Entwicklungshilfeorganisationen. Ein immer größerer Teil öffentlicher Entwicklungshilfegelder wird mittlerweile über sie abgewickelt. Zurückzuführen ist diese Aufwertung in der internationalen Zusammenarbeit im Wesentlichen auf die vermeintlichen komparativen Vorteile von NGOs. Anders als Dritte-Welt-Regierungen gelten sie als basisnäher und partizipativer. Entscheidender Grund ihrer Aufwertung dürfte jedoch die Tatsache sein, dass sie effizienter und kostengünstiger arbeiten als die meisten staatlichen Entwicklungsbürokratien.

Der Aufschwung geht nicht von ungefähr einher mit den Anfang der Achtzigerjahre anlaufenden Strukturanpassungsprogrammen des Internationalen Währungsfonds (IWF) und der Weltbank. Im Gegenzug für neue Kredite und Schuldenumwandlungen verpflichteten sich Regierungen der Dritten Welt, ihre Haushaltsdefizite abzubauen.

Vor allem bei der staatlichen Ausgabenpolitik für Sozialleistungen wurde teilweise dramatisch gespart. NGOs haben es bis heute übernommen, diese Lücken staatlicher Sparmaßnahmen vor allem im Bildungs- und Gesundheitsbereich zu füllen. NGOs sind deshalb nicht etwa Ausdruck einer neuen Partizipationskultur; sie sind vielmehr Produkt erfolgreicher „Privatisierung“ der Sozial- und Entwicklungspolitik. Als Lückenbüßer genuin staatlicher Aufgaben sind diese Organisationen weitgehend politisch neutralisiert und nicht selten entfremden sie sich von ihrer Basis. Alle Phänomene der (staatlichen) Vereinnahmung und Instrumentalisierung von NGOs bis hin zur Korruption sind hier zu beobachten (vergleiche auch nebenstehenden Text). Mit wirklicher Partizipation oder gar Empowerment hat diese Arbeit dabei wenig zu tun.

Während „technische“ NGOs sich auf das „Managen“ bearbeitbarer Probleme auf Projektebene beschränken, zielen „politische“ NGOs auf politische Veränderung und auf die demokratische Lösung von Problemen und die Beseitigung ihrer Ursachen ab. Für die Beurteilung der Rolle, die NGOs in gesellschaftspolitischen Prozessen spielen können, ist vor allem ihr Verhältnis zum staatlichen Institutionensystem ausschlaggebend.

Mit den NGOs sind viele neue soziale Orte entstanden, die deutlich bessere Rahmenbedingungen für soziale und institutionelle Neuerungen schaffen können, als dies eine staatliche, hierarchische und wenig flexible Verwaltung vermag. In der täglichen Praxis können durchaus neue Spielräume entstehen, die kritische Bezüge zu den Ursachen von Armut und Umweltzerstörung und den dahinter stehenden Interessen und Herrschaftsstrukturen herstellen.

In vielen Ländern Afrikas, Asiens und Lateinamerikas haben sich den „traditionellen“ NGOs neue, eher politisch orientierte Organisationen zugesellt. Sie mischen sich aktiv in Landrechtsfragen ein, engagieren sich gegen Gewalt gegen Frauen und thematisieren öffentlich Menschenrechtsverletzungen und Umweltfrevel. Und mehr und mehr wird internationale Verschuldungs-, Handels- und Agrarpolitik zum Thema für NGOs im Süden. Aus Einpunktakteuren werden häufig politische Gruppen und Netzwerke, die sich aktiv in nationale und internationale Entscheidungsprozesse einzumischen versuchen. Politisch orientierte NGOs wirken so aktiv an der politischen Öffnung und im Kampf gegen autoritäre Regime mit und prägen, zum Beispiel in afrikanischen Ländern, weit mehr als alte und neue Parteien die entstehende Zivilgesellschaft.

Auch die Armutsstrategiepapiere, die neuerdings von IWF und Weltbank im Gegenzug zu Schuldenerlassen verlangt werden, können unter bestimmten Rahmenbedingungen für NGOs in den ärmsten hoch verschuldeten Ländern neue Handlungsspielräume eröffnen. Ausdrücklich wird die Beteiligung der Zivilgesellschaft bei der Erstellung der Armutsstrategiepapiere verlangt. Natürlich denken auch hier IWF und Weltbank in erster Linie an das effiziente Management von öffentlichen Sozialbudgets mit Hilfe von NGOs. Längst haben sich jedoch in Ländern wie Uganda, Bolivien, Tansania, Honduras oder Ecuador zivilgesellschaftliche Gruppen organisiert, die die Folgen neoliberaler Strukturanpassung von IWF und Weltbank nicht nur am eigenen Leib zu spüren bekommen, sondern sich aktiv gegen die makroökonomischen Auflagen zur Wehr setzen.

Soziale Bewegungen wie Gewerkschaften oder Bauernorganisationen arbeiten immer häufiger Hand in Hand mit NGOs, die auf nationaler wie internationaler Ebene Informationen besorgen und Öffentlichkeit herstellen. Bei den Armutsstrategiepapieren wird es im Wesentlichen darauf ankommen, dass sich NGOs und andere zivilgesellschaftliche Organisationen nicht auf den sozialpolitischen Part reduzieren lassen, sondern sich aktiv in die Politik ihrer Regierungen, des IWF und der Weltbank einzumischen versuchen. Immer wird dies nicht gelingen, weil mit ihrem wachsenden Einfluss die staatliche Reaktion auf die politischen NGOs repressiver wird.

Weltweit ist übrigens zu beobachten, dass von Seiten der Regierungen und internationalen Institutionen wie IWF, Weltbank oder WTO (Welthandelsorganisation) eine Ausdifferenzierung der NGOs entlang inhaltlicher/politischer Unterschiede versucht wird. Eher „gemäßigte“ werden als „politikfähig“ geadelt und dürfen Regierungspolitik mit zivilgesellschaftlicher Legitimierung versehen. Hier setzt auch die viel zitierte „Offensive des Lächelns“ gerade internationaler zwischenstaatlicher Organisationen an. Die „radikalen“ werden dagegen ausgegrenzt und im schlimmsten Fall kriminalisiert, sogar mit dem Leben bedroht. Dort, wo sie sich direkt mit konkreten Interessen anlegen, bekommen sie staatliche Repression sofort zu spüren. Wer zum Beispiel ein konkretes Entwicklungsprojekt wie ein Erdölerschließungsprojekt im Tschad oder ein Staudammprojekt in Indien verzögern oder gar verhindern will, ist ständigen Bedrohungen durch die staatlichen Apparate ausgesetzt. Viel hängt davon ab, ob dieser Widerstand von NGOs im Norden unterstützt und öffentlich gemacht wird.

Für Transparenz und Informationen zu sorgen ist einer der wichtigsten Beiträge von NGOs weltweit. In der konkreten Unterstützung von Widerstand vor Ort durch den Einsatz neuer Informationstechnologien und professioneller Medienarbeit weltweit konnte in den letzten Jahren eine ganze Reihe von problematischen Entwicklungsprojekten verhindert werden. Und schließlich sind es NGOs, die weltweit politische Einmischung gegen die negativen Folgen der Globalisierung mitorganisieren oder zumindest Bewusstsein dafür schaffen.

BARBARA UNMÜSSIG, 44, ist Gründerin und Vorstandsvorsitzende der NGO WEED, Weltwirtschaft, Ökologie und Entwicklung. Ihre Themenschwerpunkte sind internationale Finanzinstitutionen, Verschuldung, Außenwirtschafts- und internationale Umweltpolitik