Nie ganz verscharrt

Wenn kulturelle Welten ihre Selbstverständlichkeit verlieren, dann stürzen mit ihnen auch ihre Schlüsselworte und mit diesen die Inhalte. Die Gegenmittel: Geschichtswissen und (Herzens-)Bildung

von DOROTHEE SÖLLE
und FULBERT STEFFENSKY

In dem mittelalterlichen Lied „Wo die Liebe (caritas) und die Sehnsucht (amor) ist, da ist Gott“ sind zwei Formen der Liebe in merkwürdiger Vermischung genannt, nämlich Erotik und Nächstenliebe. Das griechische Wort „Eros“, Sehnen oder Verlangen, bezeichnete in der Antike einen Dämon, der den Menschen über sich selber hinaus trieb zu Erfüllung und Vollendung. Eros entstammt dem Empfinden der Unvollkommenheit, des Mangels, der Sehnsucht nach dem, was jetzt nicht ist, was aber sein will. Diese erotische Kraft lebt in allen Menschen, insofern sie auf Beziehung hin angelegt oder – frömmer gesagt – geschaffen sind.

Neue Lebenskonzepte wählen sich oft neue Grundwörter. So hat das ursprüngliche Christentum, um seinen Grundbegriff und seine Praxis von Liebe zu beschreiben, nicht auf den Eros zurückgegriffen, sondern das sehr viel unscheinbarere griechische Wort agape gewählt. Dieser Begriff stammt aus der Tradition des geschwisterlich geteilten Essens, der Feier des Abendmahls. Agape bedeutete: Sklavinnen und Herren; Färberinnen, die den Gestank der Tierhäute nicht loswurden, und Geschäftsinhaber; jüdische und griechische Menschen; Ortsansässige und Fremdlinge teilten miteinander in ihrer Feier des Glaubens, was sie zu essen hatten. Das Essen war der sinnliche Ausdruck ihres Miteinanders. Zusammensein in der Liebe bedeutete also diese Agape, nicht nur die Herabneigung des einen zum anderen. Agape ist die Fähigkeit der Selbsthingabe des Menschen: die Fähigkeit, aus der Selbstverschlossenheit herauszutreten und das Gesicht eines anderen wahrzunehmen. „Im Anfang war die Beziehung“, so drückt der jüdische Religionsphilosoph Martin Buber dieses Grunddatum menschlicher Existenz aus. Wir sind nicht einfach der wirtschaftsfähige Mensch, für den es genügt, seinem erleuchteten Selbstinteresse zu folgen. „Am Anfang“ war nicht der homo oeconomicus, dieses geschäfts- und genussfähige Einzelwesen, zu dem wir gemacht werden sollen, sondern die Selbsttranszendenz der Liebe.

Das Merkmal dieser Liebe ist also die Gegenseitigkeit. Es gehört zum Wesen der Liebe, die Einteilungen in Geben und Empfangen, in Handelnde und Behandelte, in aktiv und passiv zu unterlaufen und gerade die Einheit von Handeln und Beschenktwerden zu leben.

Die Liebe aber denkt nicht nur interpersonal, sondern sie lebt in der strukturellen Beachtung von Wirklichkeit. Sie ist untrennbar verbunden mit Gerechtigkeit, ihrem politischen Namen. Wenn diese Liebe langfristig ist und ihre politische Naivität abgeschüttelt hat, dann weiß sie, was der Markt, die Ökonomie und die Ökologie den Menschen antun können. Diese öffentlich gewordene und an Öffentlichkeit interessierte Liebe verdient am ehesten den Namen Solidarität. Solidarität also ist die Haltung, die die Bedingungen und die Strukturen des menschlichen Lebens bedenkt. Sie meint nicht nur einen einzelnen Menschen, sie denkt menschheitlich. Die Nächstenliebe meint eher den Hungernden, die geschändete Frau, das verlassene Kind, die in mein Blickfeld gekommen sind und die mich adoptiert haben, indem ich sie angesehen habe. Zwischen Nächstenliebe und Solidarität besteht höchstens ein Unterschied in der Pointierung, nicht aber im Wesen. Solidarität ohne Liebe in reiner moralisch-politischer Mechanik wird leer. Liebe ohne Intelligenz, Liebe ohne den Blick für die Strukturen des Rechts und des Unrechts wird blind und hilflos.

Aber wir haben keine Zeit mehr, Solidarität und Nächstenliebe in Konkurrenz zueinander zu lassen. Denn beide sind gefährdet. Wenn kulturelle Welten ihre Selbstverständlichkeit verlieren, dann stürzen mit ihnen auch ihre Schlüsselworte und mit diesen die Inhalte, die sie ausdrücken. Das Wort Solidarität ist über die Französische Revolution und die Geschichte der Arbeiterbewegung das Erkennungswort des Sozialismus gewesen. Das Wort Liebe oder Nächstenliebe war die Parole des Christentums. Diese beiden Wörter waren nicht nur irgendeine technische Benennung, sie waren die Kurzformeln der Bewegungen, in denen sie hauptsächlich zu Hause waren. Wer das Wort Solidarität gebrauchte, vielleicht sogar in der Verbindung „international“, roch nach Sozialismus. Wer das Wort Nächstenliebe gebrauchte, roch religiös. Was aber, wenn die kulturellen Heimaten verschwinden oder verblassen, in denen diese Wörter zu Hause waren? Können programmatische Wörter und Bilder herrenlos umherirren? Werden sie nicht mit ihren Heimaten untergehen? Ist damit nicht auch die Sache gefährdet, die diese Wortbilder einmal meinten? Menschheitliche Absichten werden nicht nur von Einzelnen vertreten. Große Lebensoptionen wie die von Solidarität und Liebe halten sich nur, wenn sie in Kulturen eingebettet sind.

Wir sehen uns neuen Lebenslagen gegenüber, in denen der Grund der beiden Worte bedroht ist. Es gab einmal einen vom Christentum, vom Sozialismus, von humanistischen Gruppen getragenen Horizont, einen Normenkanon, welcher Solidarität, Liebe, Achtung des Lebens und Gedächtnis der Toten gebot. Menschen unter diesen Horizonten waren gewohnt, normativ zu denken. Diese Normen hielten sich nicht allein durch Argumente, sie wurden eingeübt und einleuchtend gemacht durch Geschichten, die man sich in der Gruppe erzählte, etwa von Franz von Assisi oder von Joe Hill, von Elisabeth von Thüringen und von Rosa Luxemburg. Man hatte einen Kanon von Erinnerungen an das, was Menschen der eigenen Bewegung einmal geträumt und versucht hatten, und das Scheitern hat ihre Versuche nicht ungültig gemacht. Man hat Lieder gesungen und Gedichte gewusst, die die Träume und die Absichten der eigenen Gruppe ausdrückten.

Was aber, wenn in einer posttraditionalen und postmoralen Gesellschaft; in einer Gesellschaft eines rasenden Individualismus, die keine Gruppen, keine Zusammenhänge und keine Herkünfte mehr kennt, diese Normenhorizonte mit ihren Dramatisierungen selber zusammenbrechen? Wir erleben im Augenblick den Zusammenbruch oder die Entwichtigung zweier großer Lesarten der Geschichte, des Sozialismus und des Christentums. Den Anteil dieser beiden Lesarten an der Beleidigung des Lebens kann niemand unterschlagen. Aber das Christentum konnte den Christen in den Weg treten, wie gelegentlich die Idee des Sozialismus den real existierenden Sozialismus irritieren konnte. Rosa Luxemburg und Franz von Assisi konnten nie ganz verscharrt werden. Man hatte ihre subversiven Lieder und Geschichten, und es gab immer wieder Gruppen, die sie ausgruben. Es gab verpflichtende Texte, auch wenn sie noch so oft gefälscht oder unterschlagen wurden. Diese Texte befahlen, die Welt von den Opfern und Beleidigten her zu lesen. Was aber, wenn die Kultur untergeht, in der diese Texte beheimatet sind? Was, wenn die Gruppen verschwinden, in denen solche Texte gelesen und gewusst werden? Wenn nichts mehr zu lesen ist, wird die Welt selber unleserlich. Wenn die Lieder verstummen, verstummt auch der Geist. Der neue Feind von Solidarität und Nächstenliebe könnte die ungestörte Heutigkeit der Menschen werden, das traditionsfreie Individuum, das sich selber Horizont und einzige Norm ist.

Solidarität, Nächstenliebe und der Widerstand gegen das Unrecht brauchen eine Spiritualität, um langfristig und intensiv zu werden. Eine Regel solcher Spiritualität heißt: Kenne deine eigene Herkunft und die Traditionen der Freiheit! Man muss viel wissen, um der Hoffnungslosigkeit und dem Zynismus zu entkommen. Wir sind auch für unseren Mut verantwortlich. Dieser aber nährt sich von den Geschichten des Gelingens. Man muss wissen, dass schon einmal Menschen aus den Sklavenhäusern entkommen sind, um daran zu glauben, dass man selber entkommen kann. Man muss wissen, was die Toten, die wir zu uns rechnen, geträumt haben, damit sich unsere Träume und unser Gewissen an ihren Träumen schärfen. Solidarität entsteht nicht in dem Augenblick, da sie nötig ist. Man muss sich in der Liebe bilden, und Bildung ist ein langfristiges Unternehmen.

Eine andere Regel spiritueller Bildung heißt: Wisse, was Menschen an dem Ort und in der Region, in der du lebst, gelitten haben! Ein Moment spiritueller Bildung ist das Gedächtnis der Toten. Heimat heißt, in ausgeleuchteten Räumen leben; in Räumen, die man sich bekannt gemacht hat. Und das Herz jeder Erzählung ist das Gedächtnis der Leiden und die Erinnerung an die Toten, die aus unserer Solidarität nicht entlassen werden dürfen. Die Erinnerung an die Toten ist der Appell an die Solidarität mit Lebenden. Wo die Geschichte der Leiden erzählt wird, wird mit jedem Satz gesagt: So soll es nicht weiter sein!

Wir beide sprechen als Christen, und uns wird die christliche Tradition und die Bildungswerkstatt Kirche immer wichtiger. Nicht dass Christen besser wären als andere, aber die Kirchen gehören zu den letzten Institutionen mit einer zusammenhängenden Sprache mit Geschichten der Freiheit und des Entrinnens. Dort stehen die Bücher, die sie aufbewahren. Dort ist eingerichtet, jeden Sonntag und auf allen Kirchentagen in ihnen zu lesen. Religion ist der Ort der verfemten Begriffe und Bilder: Gerechtigkeit, Barmherzigkeit, Freiheit, Gnade, Schutz des geknickten Lebens, Trost, Sturz der Tyrannen, Erzählungen der Niederlagen und der Rettungen. Was gegen diese Kirchen einzuwenden ist, wissen am besten die, die drin sind. Aber vielleicht war die Religionsfeindschaft der alten Linken doch ein Fehler. Sie wollten vernünftig handeln, zielorientiert und funktional. Viele haben dies mit Konsequenz und Leidenschaft getan. Sie konnten kämpfen, aber sie konnten den Sieg des Rechts nicht spielerisch vorwegnehmen. Sie konnten arbeiten, aber sie haben ihre eigene Hoffnung zu wenig ernährt.

Die Liebe und die Solidarität brauchen eine Sprache, die uns mit anderen und mit einer Tradition verbindet, die über die reine Subjektivität hinausgeht. Wir sind alle „unheilbar religiös“ , wie Nicolai Berdjajew gesagt hat. Sich von dieser Krankheit zu verabschieden ist zugleich eine Aufgabe der Erotik Gottes, ohne die Leben nicht lebt. Die Zweifel an den Menschen, die sich von dieser Krankheit „geheilt“ glauben, sind mit der Totalisierung der Ökonomie immer mehr gewachsen. Können wir denn ohne „die Liebe Gottes, die höher ist als alle Vernunft“, leben? Ist nicht der Verzicht auf Religion ein Verzicht auf Eros? Von einem Menschen zu sagen, er oder sie sei unerotisch, scheint eine Art Todesurteil. Die Zerstörung unserer Wünsche und Träume vom Leben aller auf diesem Planeten schreitet mit der Erübrigung von Religion voran. Ist nicht das, was viele für aufgeklärtere Intelligenz halten, eher nach dem Muster zu beschreiben: Behandlung (der Krankheit Religion) erfolgreich, Patient tot!

DOROTHEE SÖLLE, geb. 1929, evangelische Theologin, lebt als freie Schriftstellerin in Hamburg. In ihren Reden und Schriften fordert sie Christen zu Toleranz und politischem Handeln auf FULBERT STEFFENSKY, geb. 1933, sorgte auf dem evangelischen Kirchentag 1999 für Aufsehen, als er die Ehe für gleichgeschlechtliche Partnerinnen und Partner forderte