Trend zur Zweitsolidarität

Ein Gespräch mit dem Trendforscher Matthias Hau über Solidarität und Reisen. In seinem Buch „Stil und Treue zum Ich“ setzt Hau sich auch mit solidarischen Reiseformen auseinander

INTERVIEW: EDITH KRESTA

taz: Herr Hau, Sie sehen Reisen als letzte Domäne der Selbstverwirklichung. Warum?

Matthias Hau: Wo kann man sonst so bei sich im Hier und Jetzt sein? Reisen, der Urlaub allgemein, ermöglicht die ultimative Treue zum Ich.

Uns, die wir es uns leisten können?

Sehen sie, hier fängt ja gerade die Auseinandersetzung mit dem Begriff Solidarität an. Jede Reise in Länder der Dritten Welt ist ein Akt der aktiven Solidarität.Tourismus schafft Arbeitsplätze und bringt Devisen, führt rückständige Kulturen an die Moderne heran und ist ein Korrektiv gegen tyrannische, undemokratische politische Verhältnisse. Denn Länder mit repressiven Systemen passen nur schlecht auf die touristische Landkarte. Freundliche Kulturen, harmonische Verhältnisse, Natur und Schönheit sind die Qualitätsmargen touristischer Destinationen. Und da fast jedes Land der Dritten Welt auf die touristische Landkarte will, beschleunigt der Tourismus Demokratisierungsprozesse in vielen Ländern enorm.

Was früher Waffen für El Salvador waren, sind also heute Touristen für Haiti oder Nicaragua?

Genau. Das ist ein aktiver Akt der Solidarität mit großem Synergieeffekt. Nicht umsonst fördert ja auch die Gesellschaft für Technische Zusammenarbeit regionale Tourismusprojekte weltweit.

Also statt Nicaragua-Kaffee Sonnenbaden auf den Isla de Mais?

Mit Masochismus kommen wir heute nicht mehr weit, und nichts anderes war ja der Genuss dieses schwer verdaulichen Gebräus. Heute muss der solidarische Akt einen eindeutigen Genusseffekt haben. Hier sind wir wieder bei der Treue zum Ich. Der Gutmensch hat ausgespielt. Wer heute Gutes tut, trinkt nur das, was ihm schmeckt. Er tut zuerst etwas für sich. Das war ohnehin immer so, nur heute steht man dazu. Das ist die neue Ehrlichkeit.

Allein die Reise in Länder der Dritten Welt ist also Ihrer Meinung nach Solidarität beim Reisen?

Ja, aber da sind natürlich noch viele andere Spielarten möglich, abgestimmt auf persönlichen Stil und Persönlichkeitsprofil. Ich persönlich verreise immer all inclusive, und viele andere tun das auch. Diese Reiseform schont nicht nur Natur und Kultur der Länder, sie ermöglicht noch ganz andere Solidaritätsbezeugungen. Heute können Sie ja sogar die Kleidung vor Ort all inclusive buchen. Was ich dann an Gepäckkapazität im Flieger frei habe, fülle ich mit abgelegter Kleidung aus meinem Schrank auf. So kann ich ganzen Familien in Sri Lanka oder Kenia eine Freude machen. Das hat mir schon weltweit viele Freunde gebracht.

Und wie sieht es mit der Solidarität zu Hause aus?

Dazu bleibt wenig Zeit. Auch Solidarität braucht Einfühlungsvermögen und die Bereitschaft sich einzulassen. Das können wir uns hier kaum noch leisten. Wir brauchen die Wärme in der Ferne, um uns wie zu Hause zu fühlen. Deshalb sage ich, der Trend geht eindeutig zur Zweitsolidarität beim Reisen.