Projekte, Projekte

Der Entwicklungshelfer, Umweltschützer und Unternehmer Wilfried Merle will im Nordosten Venezuelas mit sozial verantwortlichem Tourismus die Not lindern. Die Halbinsel Paria, Armenhaus des Landes, lockt mit Karibikstränden und Regenwald

von GÜNTER ERMLICH

Gedankenversunken schaut Wilfried Merle in die Abendsonne, die über dem Sumpfland untergeht. Schwarze Wasserbüffel waten fast lautlos im Brackwasser, aus dem grünes Riedgras wächst. Zwei Männer im Einbaum paddeln durch das Grasdickicht. Die Nacht fällt ein: Überall beginnt es zu zirpen, summen, quaken. Die Savanne lebt.

Wir sind auf der Halbinsel Paria, im äußersten Nordosten von Venezuela. Karibikstrände, Feuchtsavanne, Regenwald. In ein bis zwei Autostunden sind sie von der Provinzhaupstadt Carúpano zu erreichen. Aber Paria ist auch das Armenhaus des Landes. Außer einer Ölsardinenfabrik gibt es keine Industrie. Die Menschen leben vom mageren Fischfang, von einem Conuco genannten Kleinfeld, auf dem sie Mais, Erdfrüchte und Tomaten anbauen, vom Kleinsthandel. Und seit einigen Jahren auch vom Tourismus in kleinem Maßstab.

„Du siehst tausende von Hektar brachliegen und die Leute hier meinen: Die Savanne taugt zu nichts! Aber Merle sagte sich, für irgendetwas muss sie doch taugen.“ Vor 25 Jahren setzte er schließlich zwei Büffelkühe und einen Büffelmacho aus, die sich im Lauf der Zeit prächtig vermehrten. Endlich der Durchbruch. Denn Büffel sind genügsam und fressen nur Binsen. Doch anfangs ertranken bei Hochwasser viele Jungtiere. Deshalb ließ Merle mit Maschinen seiner damaligen Baufirma Schlamm ausbaggern und erhöhte Dämme. Als „Nebenprodukt“ entstand ein Netz von Kanälen durch die Sumpflandschaft.

Heute betreiben Merle und seine Familie auf 1.000 Hektar die Ranch „Río de Agua“ mit rund 700 Wasserbüffeln. Die von Natur aus wilden Büffel wurden erfolgreich gezähmt. Die Masttiere wandern nach gut zwei Jahren ins Schlachthaus, mit der Milch der Büffelkühe wird Käse hergestellt. Züchter aus der ganzen Welt kommen zum „Büffeln“ auf die Merle-Ranch, Ornithologen zum Beobachten der 500 Vogelarten in der amphibischen Landschaft, Schulklassen finden hier ein „natürliches Klassenzimmer“ und Touristen eine naturnahe Unterkunft. Auf einer künstlichen Savanneninsel, von hohen Königspalmen gesäumt, können sie in einfachen CabaÔas im Einklang mit der Natur nächtigen. Die Wände sind aus Lehm und Holz, das Dach aus Palmenstroh, der Strom kommt aus Sonnenkollektoren. Die Fenster haben nur Fliegendraht, die nächtliche „Sinfonie der Savanne“ kann ungefiltert ans Ohr dringen.

„Die Wasserbüffel-Ranch ist mein Leib- und Magenprojekt“, sagt der 60 Jahre alte Merle. Vor 36 Jahren kam der Pfälzer Merle als Agrarexperte nach Paria und baute im Rahmen eines Entwicklungsprojekts eine Landwirtschaftsschule auf. Danach gründete er eine Straßenbaufirma, baute im Auftrag der Regierung jede Menge Asphaltstraßen. Als gemachter Mann stieg er aus dem Baugeschäft aus und mit seinem neuen Unternehmen Corpomedina in den Tourismus ein. Jagdgrüner Filzhut, grauer Rauschebart, helle Tropenkleidung – Wilfried Merle ist ein bunter Hund, den auf Paria jedes Kind kennt und respektiert. An Energie und Einfallsreichtum kaum zu übertreffen. Rastlos stürzt sich der Unternehmer, Entwicklungshelfer und Umweltschützer in neue Projekte. Ein Netzwerk von Unternehmen, Stiftungen und Initiativen mit sozial-, umwelt- und entwicklungspolitischem Anspruch managt Merle aus seinem Büro im kolonialen Casa del Cable in Carúpano und aus seinem Jeep mit Handy und Sprechfunk.

„Regionalpolitischer Mischkonzern“ – wobei Konzern eine Nummer zu groß ist – heißt es im Gutachten des Studienkreises für Tourismus und Entwicklung, der Merle mit dem „TO DO! 98“-Preis für sozialverantwortlichen Tourismus auszeichnete. Merle ist Macher und Motor des Proyecto Paria, eines Verbunds von 14 privaten Initiativen mit 120 Angestellten, die die Tourismusentwicklung auf Paria ökonomisch vorantreiben wollen. Ein sozialökonomisches Entwicklungsprojekt für die Region, wobei der Tourismus nur ein Faktor ist. In Paria arbeiten zwei von Merle initiierte Stiftungen. Die „FundaciÙn Proyecto Paria“ und die „FundaciÙn Thomas Merle“ unterstützen Dorfgemeinden mit vielfältigen regional- und sozialpolitischen Projekten und Programmen. Ihr Ziel ist die Verbesserung des Lebensstandards der Einheimischen, ihr Konzept die Hilfe zur Selbsthilfe. Die Stiftungen vergeben Kleinkredite an Kleinstunternehmer, microempresarios, oft Frauen, die nie einen Kredit von der Bank für den Ausbau ihrer Posada bekommen würden. Sie gründen Gesundheitskomitees und helfen beim Aufbau einer Krankenstation in einem Bergdorf. Sie organisieren den Bustransport von Schülern in abgelegenen Bergdörfern, bieten Nachhilfeunterricht an und forcieren Alphabetisierungsprogramme. Eine geräumige Schutzhütte wird bald eine Regenwaldschule beherbergen. In Kooperation mit der deutschen Stiftung Oro Verde (grünes Gold) sollen Umweltschützer in Workshops ausgebildet werden.

Das früher einseitig von Merle abhängige „Proyecto“ ist auf mehrere Schultern verteilt, seitdem in den letzten Jahren neue Partner hinzustießen. Es sind Akademiker, die von der Hauptstadt Caracas mit ihrer Kriminalität, Luftverschmutzung, Korruption die Nase voll hatten. Zwar haben sie alle noch ein Standbein in Caracas und arbeiten zeitweise in ihren erlernten Berufen. Als Quereinsteiger investierten sie in Paria in den Tourismus. Um ihrem Leben einen neuen Sinn und den Einheimischen Arbeit zu geben.

„Paria ist 50 Jahre zurück“, sagt einer von ihnen. „Ein Reservat für Träumer“, sagt eine andere. Eine Journalistin zum Beispiel führt die Geschäfte von „Aguasana“, einem Wellness-Resort mit heißen, aus Vulkangestein sprudelnden Thermalquellen; ein Ehepaar – sie Psychotherapeutin, er Architekt – betreibt in einem stilvoll restaurierten Kolonialgebäude die Posada „Villa Antillana“; ein früherer Reiseleiter managt die lange Jahre unbewirtschaftete Kakao-Hacienda „Bukare“ und will bald eine kleine Schokoladenfabrik errichten.

Playa Medina. 350 Meter feiner, weißer Sandstrand. Dahinter breitet sich ein Hain hoher Kokospalmen aus. Frauen mit mobilen Garküchen brutzeln in gußeisernen Pfannen fangfrischen Pargo, Mariscos (Meeresfrüchte) und Empanadas (Maistaschen). In der geschützten Bucht dümpeln bunte Fischerboote, Pelikane kreisen übers sanftwellige Meer. Bacardistrand. Im Frühjahr drehte hier der Rumhersteller für seinen neuesten Werbespot. Mitte der Achtzigerjahre kaufte Merles Touristikfirma Corpomedina die nicht mehr bewirtschaftete Kokospalmen-Hacienda von Playa Medina. Er ließ eine Straße bauen und acht komfortable, zweistöckige Strandhäuschen inklusive eines kleinen Freiluftrestaurants unter Kokospalmen aufstellen. Rund 30 Gäste können in der Hängematte ihre Körper baumeln lassen. Die Lage ist exklusiv, der Preis mithin auch: 142 US-Dollar für zwei Personen Vollpension am Tag.

Es gibt sehr viel Armut unter den Kleinbauern und Fischern von Paria. In Indien sind Paria Ausgestoßene, für die indianische Bevölkerung war Paria das „Land des Wassers“. Beides trifft auf die Halbinsel zu. Über 40 Prozent der Bevölkerung sind Analphabeten, über 30 Prozent offiziell arbeitslos. Wer die vielen Jugendlichen vor den Hütten und auf den Straßen sieht, glaubt an glatte statistische Untertreibung. Drogen und Alkohol geben ihnen den Rest. Mitte der Achtzigerjahre waren die – dank des Erdöls – fetten Jahre in Venezuela vorbei. Der Ölpreis fiel ins Bodenlose. Aus dem Schmiermittel des Wohlstands wurde die Scheiße des Teufels („el excremento del diablo“). Die Vergünstigungen durch den Ölboom, zum Beispiel staatlich suventionierte Lebensmittel sowie öffentliche Transportmittel, fielen plötzlich weg. Besonders die kleinen Leute wurden auf sich selbst zurückgeworfen. Doch noch heute hängt der venezolanische Export zu 70 Prozent am Tropf des Öls und seiner Derivate. Im Land kostet der Liter Benzin 70 Bolivares (umgerechnet etwa 25 Pfennig), die Anderthalb-Liter-Flasche Wasser das Zehnfache. Tourismus ist der Hoffnungsträger auf der Halbinsel. Ist er auch eine Alternative für die Armen?

Vicente Rosas, 36 Jahre alt, Vater von sieben Kindern, war anfangs in Playa Medina Nachtwächter, dann Kellner. Mit Hilfe von Büchern und Workshops hat sich der frühere Analphabet qualifiziert und ist seit zwei Jahren Pächter der gesamten Anlage. Zuständig für Strandhütten und Restaurant, Reinigung des öffentlichen Strandes und Lizenzvergabe an die ambulanten Garküchenfrauen. Er hat acht Leute fest angestellt. Gärtner bis zum Stubenmädchen, Kellner und Koch, alle kommen aus der Umgebung. Sie wechseln sich zeitlich ab, erklärt Rosas, um keinen Streit um die wenigen Posten aufkommen zu lassen. Und Fischer und Bauern können ihre Fische und Meeresfrüchte, ihr Obst und Gemüse an das Restaurant verkaufen.

Acht Strandhäuser seien auf Dauer einfach zu elitär, ökonomisch nicht zu vertreten, gibt Wilfried Merle zu bedenken. Er will nicht die Mutter Teresa von Paria sein. Deshalb plant er den Bau weiterer 100 bis 110 CabaÔas im Palmenhain und 14 Ferienappartements an der Straße oberhalb der Bucht. Wäre das aber nicht der Anfang vom Ende der Playa Medina? „Wir wollen jeden Baum, jeden Kolibri, jede Blume retten. Die Menschen spielen dabei keine Rolle.“ Merle könnte auf die Palme gehen. „Ist es denn nicht das Primäre, die Armut der Menschen zu lindern?“ Viel mehr Investoren brauche das Land, gerade im Tourismus.

Vor Jahren schon warf der Club Med, allerdings erfolglos, seine Angel nach Playa Medina aus. Zur Größenordnung: Im Augenblick verfügen alle Mitgliedsbetriebe des Proyecto Paria – Hotels, Posadas, Campamentos – zusammen nur über 200 Betten. Ein einziges Strandhotel auf Isla Margarita kommt dagegen auf die doppelte Bettenkapazität. Isla Margarita, die Insel vor der Küste Parias, ist der Spiegel, in den die Paria-Touristiker schauen: Wollen wir mal sooo aussehen? Nein! Hotelklötze und Bettenburgen von großem Ausmaß, aber wenig Stil, austauschbare All-inclusive-Anlagen mit internationalem Standard. Massenbetrieb und Massenabfertigung, Happy Hour an der Poolbar, Aquarobic mit Salsasauce. Wenig Profit für die Einheimischen. „Die Isla Margarita gehört nicht mehr zu meinem Regierungsbezirk“, entschuldigt sich Merle augenzwinkernd.

Info: Reisen können direkt beim Proyecto Paria oder über den deutschen Veranstalter Aventoura gebucht werden.

Möglich sind individuell zusammengestellte Programmangebote (z. B. Übernachtungen in Playa Medina, auf der Büffelranch, in Posadas in Río Caribe). Flug nach Caracas oder auf die Isla Margarita. Von beiden Orten gibt es täglich Anschlussflüge nach Carúpano auf Paria.

Adressen: Wilfried Merle, Casa del Cable Plaza Santa Rosa No. 9, Carúpano, Estado Sucre, Venezuela. Tel.: (00 58 - 94) 31 38 47 oder (00 58 - 94) 31 33 70.Fax: (00 58 - 94) 31 20 67. E-Mail: wilfried@telcel.net.ve

Aventoura, Löwenstraße 3-7, 79098 Freiburg, Tel.: (07 61) 29 60 60, Fax: (0761) 2 96 06 99. E-Mail: info@aventoura.de Internet: www.aventoura.de

Zur Hintergrundinformation: Studienkreis für Tourismus und Entwicklung, Kapellenweg 3, 82541 Ammerland/Starnberger See, Tel: (0 81 77) 17 83, Fax: (0 81 77) 13 49. E-Mail: studienkreistourismus@compuserve.com.