„Eine Stulle für Jaruzelski“

Brillen für Mosambik, Altstoffe für Indien, Spielzeug für Polen, Unterschriften gegen Diktatoren: In der DDR war Solidarität auch in den 80ern noch eine ernste Sache. Freiwillig gab aber keiner was

von JOCHEN SCHMIDT

Meine Mutter nannte Solidarität „Sabbeldabbeltät“, aber das half ihr nichts, einmal im Jahr musste sie Kuchen für den Kuchenbasar unserer Klasse backen. Der Kuchen wurde in der Schulpause verkauft und die Einnahmen kamen aufs Soli-Konto.

Der Spaß so eines Basars bestand aber vor allem darin, dass die halbe Schule gleichzeitig den kleinen Kuchentisch belagerte, und man, wenn man sich geschickt anstellte, unbemerkt seinen Arm zwischen zwei Rücken durchschieben und nach einem Stück Käsekuchen ausstrecken konnte. Mit dieser Beute trat man dann schnell den Rückzug an und war sich der Bewunderung der Mitschüler sicher. Manchmal kam es gegen Ende der Pause zu regelrechten Plünderungen.

Nicht immer war Solidarität so aufregend. Von überall aus der Welt erreichten unsere Klasse Hilferufe: In Indien gab es einen Traktor zu wenig, in Chile einen Diktator zu viel, in Mosambik hatte sich im Zuge der Alphabetisierung herausgestellt, wie viele Mosambikaner eine Brille brauchten, in Japan faltete ein Mädchen Papierkraniche, schaffte es 1.000 davon, so würde es, daran glaubte man in Japan, nicht an den Folgen der radioaktiven Verstrahlung in Hiroshima sterben.

Wir sammelten Altstoffe, die in indische Traktoren umgewandelt wurden, Unterschriften, die Diktatoren Angst einjagten, Brillengläser, mit denen die Mosambikaner besser sehen konnten, wir falteten Kraniche für die kleine Japanerin. Einmal sammelten wir sogar Spielzeug, denn in Polen hatte die Solidarność durch ihre Streiks nur erreicht, dass die polnischen Kinder zu Weihnachten keine Geschenke bekommen würden.

Jeder brachte etwas, was er entbehren konnte, und im Klassenraum wurden die Schätze ausgebreitet. Es war eine erbärmliche Ansammlung zerschlissener Puppen und halb zerbrochener Autos. Hatte jemand etwas Brauchbares mitgebracht, schaffte es den langen Weg bis in die Kartons nicht. Unsere Ungarin wurde wie gewohnt für verrückt erklärt, weil sie nicht nur ihre Popel aß, sondern jetzt sogar einen miniaturgroßen einarmigen Banditen aus Plaste spenden wollte „Ditt is doch ausm Westn!“, riefen wir ungläubig, „Ditt kannste doch nich vaschenken!!“

Ein langer Lkw-Konvoi brachte unser Spielzeug in diesem Winter nach Polen, wo die Schäbigkeit unserer Spenden ein lebendiges Bild von unserer Armut vermittelte, weswegen die Polen sich mit ihrer Revolution aus Solidarität mit uns noch ein wenig ins Zeug legten und die Weltordnung durcheinander brachten. Alles nur, weil es uns so schwer fiel abzugeben.

Als Jaruzelski Berlin besuchte und wir in Pankow am Straßenrand warteten, standen Sprüche wie „Haste mal ne Stulle? Für Jaruzelski“ hoch im Kurs. Aber das war nur ein Witz, in Wirklichkeit hätte wahrscheinlich keiner seine Wurststulle für ihn geopfert.

Man musste schon dazu gezwungen werden, auch die Kirche hat sich hier nicht mit Ruhm bekleckert. Es war grausam, wenn man zum Erntedankfest einen Korb mit sonst nie gesehenen Früchten in ein Altersheim schleppen musste. Meine Mutter erzählte dann immer, dass sie als Kind zu Weihnachten immer Pakete zu den Armen gebracht und dass ihr das nichts geschadet habe. Bei mir hat es allerdings nur zur Folge gehabt, dass mein Geiz heute jegliches Maß überschreitet.

Noch im Winter 89 haben wir in unserer Armeeeinheit nicht darüber diskutiert, was aus dem Land nach dem Mauerfall werden könnte, sondern ob wir mehr Demokratie wagen, das heißt die bis dahin übliche obligatorische Spende auf das FDJ-Soli-Konto in eine freiwillige Spende umwandeln sollten. Das war ein Affront, denn war es nicht eine Selbstverständlichkeit für jeden von uns, zu spenden, warum sollte man da keine Liste führen und jeden einzeln abhaken, sonst vergaß am Ende noch jemand seinen Anteil einzuzahlen. Eine anonyme Spendenbüchse sollte diesen stolzen Spendenakt entwerten? Mein Argument, dass dann ja vielleicht sogar noch mehr Geld reinkommen würde, überzeugte unseren Polit-Offizier nicht.

Wir gaben jeder ein letztes Mal fluchend fünf Mark von unserem Sold hin. Seitdem haben wir nur noch an uns gedacht.