Eine moderne Bindung

Oft enttäuscht die Solidarität: Ist sie nicht viel zu selten? Wird sie nicht zerstört durch den Individualismus? Nein. Es ist umgekehrt: Solidarität setzt das freie Individuum voraus

von KARL OTTO HONDRICH

Dass es in der modernen Welt immer weniger Solidarität gebe – der Eindruck entsteht, weil wir immer mehr verlangen. Beistandserwartungen, die früher auf Menschen beschränkt waren, die sich nahe stehen, richten sich heute auch auf solche, die sich fern sind und fremd bleiben. Nicht nur in familialen und lokalen Lebenskreisen sollen wir Solidarität üben, sondern auch als Deutsche, Europäer und Weltbürger. Da können wir uns noch so sehr anstrengen: Was als Solidarität sichtbar wird, ist immer zu wenig, gemessen an dem, was nötig erscheint.

Aber ist es wirklich so wenig? Die Solidarität der Demokraten, zum Teil organisiert in Menschenrechtsorganisationen wie amnesty international und freedom watchers, verbindet den Westen heute mit chinesischen Bürgerrechtlern und kurdischen Freiheitskämpfern – und gerät in Konflikt mit den politischen Solidaritäten, die uns mit Türken und Russen verbinden. Das „Lernziel Solidarität“ wird in unzähligen Selbsthilfegruppen, Nachbarschaftshilfen, Beziehungen zwischen Großeltern und Enkeln verfolgt; in der Regel viel erfolgreicher, als weithin vermutet wird.

Wenn von Solidarität erwartet wird, dass sie, in Nah und Fern, die unterschiedlichsten Probleme löst – warum sollte sie nicht auch der taz helfen, zu überleben? So wie die taz vor 21 Jahren unbekümmert und frech als Wildling in den langweilig-gepflegten Lesepark des seriösen deutschen Zeitungswesens einbrach, war auch Solidarität nicht schon immer da, sondern ist ein Kind moderner Zeiten – ein Kind der europäischen Aufklärung und der okzidentalen Revolutionen. Und wie die taz sich einen Platz in der Zeitungswelt erkämpft hat, hat Solidarität sich im Universum sozialer Beziehungen ihren Raum erobert. Sie tritt nicht an die Stelle der gewohnten Macht-, Markt- und Gefühlsbeziehungen, sondern zwischen sie: wo Herrschaft, Kommerz, Liebe und Mitleid an ihre Grenzen stoßen, findet Solidarität ihre Funktion. Sie ist gefühlvoller als Verträge, aber nüchterner als Liebe; sie verströmt sich nicht in uneigennütziger Caritas, sondern mahnt gegenseitige Unterstützung an; sie baut auf Gleichheit der Beteiligten auf, ohne ihre Differenzen aufzuheben; sie kommt aus freien Stücken zustande und ist wieder auflösbar. Gleichheit, Freiheit und Beweglichkeit: diese Trias moderner Werte ist immer dabei, wenn wir solidarisch fühlen und handeln.

Solidarität bildet sich nur unter Menschen, die sich, zumindest in einer Beziehung, als Gleiche verstehn. Ich tue etwas für den andern und damit zugleich für mich. Das ist der Urakt aller Solidarität. Der andere handelt genau so oder würde es tun. So wird aus Übereinstimmung gemeinsame Sache. Gewerkschaften und sozialistische Parteien entstanden im 19. Jahrhundert aus der als gleich und benachteiligt empfundenen Lage der Industriearbeiter. Würde die taz sich jedoch heute noch auf die Solidarität der Arbeiter berufen, sähe sie alt aus. Die Solidarität, an die sie appelliert, ist die von Intellektuellen. Sie beruht auf der gleichen Bildungs- und Erlebnislage einer Generation von (West-)Deutschen, die in der taz ein Sprachrohr für ein gemeinsames Lebens- und Politikgefühl fand. Über die taz setzt man sich gleich: Leser untereinander, und Leser mit Journalisten. Aus dieser Ebenbürtigkeit wächst Solidarität – nicht als einseitige Hilfe und nicht als Vertragsverhältnis, sondern als Vorleistung im Vertrauen auf eine Gegenleistung: Wie wir jetzt für euch da sind, werdet ihr weiterhin für uns, also für die gemeinsame Sache schreiben. Dass diese Gegenseitigkeit eine nicht einklagbare, ja eine nicht ausgesprochene ist, macht ihre besondere moralische Qualität und Differenz zum Kontrakt aus. Solidarität ist latente Reziprozität unter Gleichen.

In jedem konkreten Fall schließt sie Nicht-Zugehörige aus, zeugt also Ungleichheit fort. Für die taz schafft das ein handfestes Problem: Wie gleichen wir uns mit mehr Menschen ab, sodass sie unsere gemeinsame Sache und die Kosten teilen? Für Solidarität als modernes ethisches Konzept liegt das Problem des Ausschlusses der Ungleichen tiefer, beruht es doch auf der Idee der Gleichheit aller Menschen. Die Grenzen familialer und ethnischer Herkunft werden übersprungen: Alle Menschen sind unserer Solidarität würdig – ob sie im Konkurrenzkampf unterliegen, ein Unrecht erleiden oder bloß herabgesetzt werden. Alle haben ein moralisches Recht darauf, dass wir uns mit ihnen gleichsetzen und sie zu unseren Gleichen machen.

Es ist diese unerhörte Universalisierung der Gleichheit, die Solidarität herausfordert und überfordert. Verglichen mit anderen gesellschaftlichen Bindekräften ist sie immer: ungenügend. Erotische Liebe schulde ich nur dem Geliebten, Nächstenliebe nur, wer mir nahe kommt, Vertragserfüllung nur dem Vertragspartner, Loyalität nur der Familie, dem Herren und dem Staat. Die Solidarität der Gleichen aber zwingt mich zur Selektion: Bin ich mit der taz solidarisch oder mit dem Dalai Lama, mit den Homosexuellen oder kinderreichen Familien, mit den Studierenden oder mit den Darbenden in der Sahel-Zone? Gerne doch mit allen. Aber unsere Taten und unsere Gefühle der Verbundenheit sind begrenzt. Je umfassender, humaner wir unsere Gleichheit als Menschen begreifen, desto größer die Notwendigkeit, sie in Wahlakten praktischer Solidarität wieder einzuschränken.

Aus dieser Notwendigkeit der Auswahl machen wir die Tugend der freien Wahl. Der solidarische Mensch ist frei. Er kann solidarisch sein, er muss es nicht. Dies macht Solidarität zu einer modernen Bindung – und unterscheidet sie von den familialen und ethnischen Verpflichtungen, die wir nicht gewählt haben. (Bei Strafe moralischer Verwerflichkeit: auch in der modernen Gesellschaft gibt es kaum etwas Schlimmeres, als die Eigenen – Kinder, Eltern, Mitbürger – im Stich zu lassen).

Allerdings: Auch in moderner Solidarität verstecken sich soziale Zwänge. So frei, wie wir uns wähnen, sind wir nie. Und manche Zwangsakte hängen sich sogar unverblümt das freiheitliche Flair der Solidarität um. Der „Solidaritätszuschlag“ auf meinem Lohnstreifen, vom Staat abgezwungen, ist ein Etikettenschwindel, zu rechtfertigen allenfalls, weil ich als Teil der Mehrheit mit dieser kollektiv organisierten Solidarität einverstanden bin und die verantwortlichen Politiker auch abwählen könnte.

Erst dass darüber diskutiert wird, ihn abzuschaffen, verleiht dem staatlich verordneten Transfer von West nach Ost den Charakter einer „echten“, modernen Solidarität. Solidarität ist keine fixe Größe, sondern eine flexible. Ihr Charakter ist wechselhaft, ja sprunghaft. Sie bindet die Menschen nicht auf alle Zeiten aneinander, sondern lässt sie auch wieder los. Sie hat einen Anfang und ein Ende. Sie verausgabt sich nicht an eine Sache. Sie entzieht sich amtlichen Versuchen, sie in Dienst zu nehmen. Unter den verbindenden Beziehungen ist sie die unverbindlichste, unter den starken sozialen Kräften die schwächste.

Dass Solidarität entzogen werden oder verlorengehen kann, erscheint auf den ersten Blick als ihr größtes moralisches Manko. In Wirklichkeit ist es nur die Kehrseite ihres größten Vorzugs: dass sie ebenso plötzlich zur Stelle sein kann. In ihrer Beweglichkeit reagiert sie auf die Beweglichkeit der Probleme und Notlagen. Sie kann sich heute bei einer Überschwemmung in Bangladesch und morgen bei einem Erdbeben in der Türkei zeigen. Wenn es brennt, hilft sie als Erste: bevor noch neue Verträge ausgehandelt, die schwerfällige Gesetzgebungsmaschinerie oder die Gerichte bemüht werden können.

Eine Feuerwehr, die immer an der gleichen Stelle bliebe, hätte ihre Aufgabe verfehlt. Sie kann weder die Polizei ersetzen noch die Maurer, die Ordnungsbehörden, die Nachbarschaften und Familien. So kann auch Solidarität die andern sozialen Bindekräfte – Marktbeziehungen, Hierarchien, Liebe – nicht ersetzen. Auf die Dauer wird auch die taz nicht durch Solidarität überleben, sondern, wie andere Zeitungen auch, indem sie am Markt besteht ...