„Die Solidarität verblasst“

Der Psychoanalytiker Professor Horst-Eberhard Richter verließ die engen Grenzen seines Faches und mischte in der sozialen Bewegung der 70er-Jahre aktiv mit. Seine Bücher wie „Lernziel Solidarität“ fehlten in keiner Wohngemeinschaft. Er prägte die Diskussion in Kinderläden und Frauen- und Männergruppen

Interview CHRISTEL BURGHOFF
und EDITH KRESTA

taz: Herr Richter, Sie sind der große Mann der Humanisierungsbewegung. Ihre Bücher waren in den Siebzigerjahren Bestseller....

H.-E. Richter: Na ja ...

Lassen Sie sich doch etwas schmeicheln ...

Ich bin damals vor allem durch ein Buch sehr bekannt geworden: „Eltern, Kind, Neurose“, in dem sich die jungen Leute sehr verstanden fühlten in ihrem Eindruck, dass ihnen ihre Elterngeneration das Erwachsenwerden, die Selbstbestimmung sehr schwer gemacht habe. Dass die Erwachsenengeneration ihnen schweigend die Last der Vergangenheit vererbt habe. Die war ja 20 Jahre überhaupt nicht besprochen worden.

Und nun wollte man abrechnen?

Ja, damals brach in der jungen Generation ein ganz tiefes Bedürfnis auf, abzurechnen mit diesem Ungeist, der ja dazu geführt hatte, dass man zwischen Wertem und Unwertem unterschied und mit Herrenmoral die Missliebigen verfolgte und zum Teil umbrachte. Da entstand eine Bewegung, in der man Gegenwerte verfolgte: nicht ausgrenzen, sondern für diskriminierte Gruppen wie Arme, psychisch Kranke, Behinderte einstehen. Diese wollte man durch Solidarisierung in die Gemeinschaft zurückholen. Und zwar eben nicht durch Helfen von oben, sondern durch Hilfe zur Emanzipierung. Ich wurde dann gefragt, weil ich als Psychoanalytiker und auch durch mein eigenes Engagement Verständnis dafür bekundete.

Wie kamen Sie dazu, die engen Grenzen ihrer Disziplin, der Psychoanalyse, zu verlassen?

Das habe ich mir nie vorgenommen. Vor allem, da ich mich am wohlsten fühle, wenn ich still nachdenke oder Patienten zuhöre. Das andere, was dann gegen meine Natur zum Vorschein gekommen ist, war spontan. Als ich wieder aus der Gefangenschaft zurückkam, entstand das Bedürfnis jetzt in dieser freien Gesellschaft, das, was wir mitschleppten an eigenen Erlebnissen, hereinzubringen in unsere Berufswelt. So kam ich allmählich durch meine Widerständigkeit, die zusammenhing mit meinem anderen Menschenbild als Psychoanalytiker, unter den Druck, entweder preiszugeben, was ich im Kopf hatte, oder ich musste mich engagieren.

Was bedeutet für Sie Solidarität?

Was damals mit Solidarität gemeint war, ist heute verblasst und weitgehend verschwunden. Damals war Solidarität der Zusammenhalt in einer Gesellschaft, die ihre Konflikte ohne innere Spaltungen und äußeren Feindbildbedarf zu überwinden versteht. Dazu wollte man die psychologische Fähigkeit erlernen, solidarisches Verhalten als Lernziel, so hieß auch mein Buch damals. Das wollten die jungen Leute lernen in Frauengruppen, gemischten Gruppen, Wohngemeinschaften. Dann gab es die Eltern-Kinder-Gruppen, die Kinderläden. Ich habe zwei solcher Gruppen ein paar Jahre lang begleitet. Das Ziel der jungen Eltern war, den Kindern zu helfen, sich einzufühlen, wechselseitig, und ihre Probleme nicht so zu lösen, dass die Stärkeren die Schwächeren unterdrücken. Dann kamen sie darauf, dass sie sich als Eltern selbst verändern müssten, um ihren Kindern so etwas wie Solidarität vorzuleben. Schließlich kam ein ganz wichtiges Thema auf, nämlich die gemeinsame Emanzipation der Geschlechter. Dies war ein Anstoß für die Frauenbewegung einerseits, andererseits aber auch eine Einsicht, dass die Männer sich mit verändern müssen.

Kann man denn Empathie lehren?

Die Anlage zur Empathie ist schon im Kleinkind drin. Wir alle bringen von Natur etwas mit von der Notwendigkeit uns einzufühlen. Mitgefühl wird nicht anerzogen, es kann allenfalls abtrainiert werden.

Sie waren so etwas wie ein Berater in Sachen Emanzipation?

Ich habe mitgemacht bei der Reform der Psychiatrie und in der Arbeit mit Ausgegrenzten in sozialen Brennpunkten. Diese Bewegung traf sich mit politischen Initiativen – Ausbau der Mitbestimmung, das Programm Humanisierung der Arbeitswelt. Das ging bis zu Willy Brandts „Politik der Compassion“, der ostpolitischen Versöhnungsstrategie und der Bemühung um einen Abbau des Nord-Süd-Gefälles. Das war ins Große verlagert die Sehnsucht nach einer solidarischen Wir-Gesellschaft.

Die taz ist ein Produkt dieses gesellschaftlichen Klimas. Sehen Sie sie noch in dieser Tradition?

Heute ist sie mir mitunter zu beliebig. Umso mehr verdient sie kritische Solidarität von ihren FreundInnen. Es ist eine Solidarität, die im Kern den klassischen Begriff trifft, nämlich das Zusammenhalten mit Bedrohten oder Schwächeren.

Solidarität gibt es aber auch in rechten Schlägertrupps.

Niemand hätte seinerzeit mein Buch „Lernziel Solidarität“ als Anleitung zu einem zusammenschweißenden Kriegsgeist missverstanden. Damals war Solidarität im allgemeinen Verständnis gleichbedeutend mit der Fähigkeit, Konflikte gemeinsam auszutragen. Damals war auch der Begriff Verantwortung noch ganz klar.

Und heute?

Heute benutzt sogar unser Kanzler gern den Begriff Eigenverantwortung – eigentlich ein Unwort. So wichtig es ist, Selbstbestimmung zu lernen, aber ihr ist Verantwortung nicht unterzuordnen, sonst wird der Verantwortungsbegriff pervertiert. Eigenverantwortung klingt, so benutzt, eher danach: Sieh zu, dass du zu den Siegern und nicht zu den Verlierern gehörst.

Gibt es noch eine gesellschaftliche Bewegung, die wie damals einen Gesellschaftsbegriff hat und sich für die Verlierer einsetzt?

Keine Bewegung, allenfalls noch zahlreiche ehrenamtliche Helfergruppen. Es kommt vor, dass sogar chronisch Kranke sich fragen, ob sie das noch dürfen, oder Alte, die heute immer älter werden, haben Angst, sie könnten den Wirtschaftsstandort belasten, weil sie nicht früher sterben. Es setzt eine Verinnerlichung des Prinzips Winner/Loser ein. Man fühlt sich selbst schuld in dieser Konkurrenzgesellschaft, wenn man abgehängt wird und scheitert.

Den Paradigmenwechsel, den Sie gerade von Brandt zu Schröder ausdrücken, wenn man den als Trend sieht, bleibt da noch Raum für Solidarität?

Wir haben durch unsere empirischen Untersuchungen herausgefunden, dass sich seit dem Ende der Siebziger die Einstellungen verändert hatten in Richtung mehr Ego-Kult, Sich-selber-Durchsetzen, mehr soziale Distanz, also alles, was man als mehr Individualisierung versteht – was aber auch als soziale Kälte, als Rückgang von Bindungsbedürfnissen, vor allem aber auch als Rückgang von Fürsorglichkeit und sozialer Sensibilität bezeichnet werden kann. Das hat sich gesteigert bis Mitte der Neunzigerjahre. Und jetzt stellen wir fest, dass es kippt, dass wieder Werte beziehungsweise Einstellungen in den Vordergrund rücken wie mehr Nähe zueinander, sich wieder um andere Menschen sorgen, der Wunsch nach langfristigen Bindungen. Aber es fehlt ein Funken, der bis ins Politische hinein zündet.

Gibt es nur noch eine private Sehnsucht nach dem Wir?

Wenn diese flexibilisierte Globalisierungswirtschaft im Sinne von Sennett uns immer mehr auseinander reißt, fragmentiert und wir uns überhaupt nicht mehr auf langfristige Strukturen einrichten können, dann wollen wir wenigstens in unseren menschlichen Beziehungen dagegenhalten. Es ist interessant, dass diese Bewegung in den neuen Bundesländern besonders ausgeprägt ist. Familie, Partnerschaft, Sexualität, Kinder spielen bei den Ostdeutschen nach unseren Untersuchungen eine besonders starke Rolle.

Und wo bleibt das gesellschaftliche Wir-Gefühl?

Man könnte meinen, es tauche in Massenszenen wie der Love Parade auf. Aber auch da tanzen alle weniger mit- als nebeneinander, eher jeder für sich. Die umarmen sich ja nicht. Aber die Masse erlöst momentan von allen Hemmungen und Bedrückungen.

Stichwort Rechtsradikalismus, Rassismus: „Unreflektierte Isolationsangst“, wie Sie es einmal genannt haben, treibt zur Anpassung, und so genannte Modernisierungsverlierer neigen zu Fundamentalismus, Gewalt, Fremdenfeindlichkeit. Was lässt sich dagegen tun?

Ein weites Feld. Entscheidend ist natürlich, dass parteioffizielle Kampagnen, die das Ressentiment gegen Ausländer und Flüchtlinge anheizen, endlich unterlassen werden.

Und mehr Lichterketten für den Osten?

Ich glaube, als man damals mit den Lichterketten nach Rostock und Solingen anfing, war das sehr wichtig. Es wirkte auf die Gewaltbereiten vorläufig einschüchternd. Aber das zieht heute nicht mehr. Als Psychoanalytiker würde ich zunächst immer am Hintergrund der Leute ansetzen. Es kommt darauf an, die Gruppen zu erforschen. Ich würde mich, wenn ich noch jünger wäre, in solche Gruppen hineinbewegen und von ihnen lernen, wie sie eigentlich dazu kommen und was sie für Zukunftsvisionen haben. Dazu bin ich nicht mehr frisch genug

Wie politisch ist Ihr Begriff von Solidarität?

Ich war nicht gerade wohl angesehen bei der 68er-Intelligenzia, die glaubten, diese Gesellschaft sei nicht reformierbar. Als 1970 diese soziale Bewegung kam, die auf einen Umbau der sozialen Struktur setzte, wurden Leute, die sich darin engagierten, als Gutmenschen und blauäugig abgetan. Gerade in der modernen Hochleistungsgesellschaft muss aber eine Humanisierung des Zusammenlebens als Reformziel verfolgt werden.

Was bestärkt Sie in ihrem Standpunkt?

Die Beunruhigung vieler Menschen, die spüren, dass wir uns von einer flexibilisierten Ökonomie und von den rasant steigenden technischen Machbarkeiten die Steuerung unseres Gemeinschaftslebens aus der Hand reißen lassen. Da ist zum Beispiel die Gefahr, dass Frauen demnächst diskriminiert werden, wenn sie Kinder mit bestimmten Anlagen zur Welt bringen, weil sie vorgeburtliche Gentests unterlassen haben. Die Trennung von wertem und unwertem Leben erinnert mich an meine Jugend in der Nazizeit.

Also moralische Entrüstung als Widerstand?

Ich glaube nicht, dass man durch moralische Appelle, missionarische Aktivitäten allein etwas bewirken kann. Dafür sind die Menschen nicht mehr empfänglich. Wir brauchen ein konstruktives Engagement.

Was ist mit der Politik?

Das ist die Gefahr, dass sich eine Führungsschicht aus Politik und Wirtschaft immer mehr von der Bevölkerung abkoppelt und dass in diese Schicht Typen aufsteigen, deren einseitiges Machtdenken nicht mit einem erwachsenen Verantwortungssinn gekoppelt ist. Die brauchen immer wieder Weltfeinde, um beispielsweise ihre wahnwitzige Aufrüstung zu rechtfertigen oder als pubertäre High-Noon-Helden Kriege gewinnen zu können. Viele, die heute an der Macht sind, wuchsen aus ihren ödipalen Protesten heraus unmittelbar in Machtverhältnisse hinein und benehmen sich so, wie sie früher dachten, dass sie nie werden.

Worauf setzen Sie dann?

Auf Hoffnung und die eigenen bescheidenen Möglichkeiten.

Statt Prinzip Solidarität also heute Prinzip Hoffnung?

Beides natürlich. Ich halte mich da an den alten Kant, der war ja auch eher ein Skeptiker, was die Moral anbetrifft. Dann gab es die Französische Revolution. Da war er schon ein alter Mann und da hat er gesagt, also die Begeisterung, die die Völker für die Ideale der Französischen Revolution haben, ist der Beweis, dass in den Menschen etwas drinsteckt, das sie immer dazu bringen wird, im Sinne dieser Ideale zu handeln. Aber richtig ist natürlich, dass ich von meiner Struktur her geneigt bin, an das zu glauben, was meinem eigenen Optimismus entgegenkommt.

Vom 8. bis 10. 12. 2000 findet in der Technischen Universität Berlin ein von Horst-Eberhard Richter mit den Ärzten für Frieden und soziale Verantwortung organisierter Kongress „Kultur des Friedens“ statt. Teilnehmer u. a. György Konrád, Hans-Peter Dürr, Richard von Weizsäcker, Ernst-Otto Czempiel