„Die Welt geht jeden Tag unter“

Von Ost nach West. Von Saigon nach Berkeley. Ortswechsel. Blickwechsel. „Faraway, From Home“. Ein Interview mit der vietnamesisch-amerikanischen Filmemacherin, Poetin, Kulturtheoretikerin, Professorin und Essayistin Trinh T. Minh-ha
von MARTIN HAGER

taz: Sie sind 1970 in die USA gegangen. Haben Sie Vietnam wegen des Krieges verlassen?

Trinh T. Min-ha: Nein, der Krieg war ja in vollem Gange. Keiner wollte zu diesem Zeitpunkt fliehen. Das kam erst nach Kriegsende, als die Leute Angst hatten vor dem neuen Regime, vor den Umerziehungslagern. Ich bin einfach deshalb gegangen, weil ich studieren wollte. In den späten 60er-Jahren waren die Universitäten in Vietnam völlig überfüllt. 500 Leute auf ein Seminar. Ich habe Bewerbungen an unzählige Universitäten in den USA geschickt, aber sie lehnten alle ab. Aber ein kleines College in Ohio wollte tatsächlich unbedingt eine Repräsentantin Vietnams. Sie verschafften mir einen Job in einem Krankenhaus, damit ich meine Studiengebühren bezahlen konnte.

Der Titel Ihres Vortrags, den Sie hier in Deutschland gehalten haben, lautet „Faraway, From Home“. Nun haben Sie Vietnam schon vor 30 Jahren verlassen. Wofür steht denn „Home“?

Es gibt viele Möglichkeiten, den Begriff zu definieren. Es kann die Farbe des Himmels sein, die dir sagt, ob du zu Hause bist oder nicht. Man kommt manchmal an Orte, wo einen das Licht regelrecht erschlägt. Es führt dich sofort nach Hause, weil es dieselbe Qualität hat. Oder das Wasser, das man trinkt, Gerüche, die man wieder erkennt, zum Beispiel am Flughafen. So definiere ich Heimat, nicht als einen bestimmten Ort, ein bestimmtes Haus.

Diese Dinge scheinen alle mit Vietnam assoziiert. Kann das „Zuhause“ sich nicht auch ändern?

Wenn man einen bestimmten Geruch als „Zu Hause“ erkennt, ist das dann Vietnam, oder bin ich es nicht in Wirklichkeit selbst? Ist es nicht dieser Körper, den ich überall bei mir führe statt eines festgelegten Standortes? Heimat ist ganz einfach dort, wo wir in Frieden leben können. Also kann es theoretisch jeder Ort sein. Aber wie können wir in Frieden leben, wenn wir uns nicht immer verändern! In der Veränderung unserer selbst definieren wir Heimat.

Heißt das, dass „Heimat“ immer rückwärtsgewandt ist, eine Erinnerung?

Es ist ein sehr bewegliches Gefühl. Das Zuhause ist etwas, was wir überall hin mitnehmen. Der Geruch von Indien ist nicht nur Indien. Und die Vergangenheit ist nicht einfach vorbei. Zeit ist nicht linear. Erinnerung hat nicht nur mit der Vergangenheit zu tun, sie ist eine kontinuierliche Konstruktion der Gegenwart und der Zukunft.

Sie haben zwei Filme zum Thema Vietnam und „Vietnamesischsein“ im Abstand von sieben Jahren gedreht? Hat sich ihre Perspektive in dieser Zeit verändert? Haben Sie sich stärker auf die amerikanische Gesellschaft zubewegt?

Ehrlich gesagt, nein. Der erste Film spielt zur Hälfte in Vietnam, zur Hälfte in den USA. Die Grundlage des zweiten Films ist eine vietnamesisches Gedicht aus dem Beginn des 19. Jahrhundert, also weit von der amerikanischen Realität der Gegenwart entfernt. Ich habe es aber in den gegenwärtigen Zeitraum versetzt. Damit bekamen allerdings einige Mitglieder der vietnamesischen Community in den USA Schwierigkeiten. Sie haben sich die Werte und Bilder der Originalgedichts bewahrt. Eine aktuelle Behandlung der Geschichte verunsichert sie.

Die amerikanische Gesellschaft selbst ist in sich widersprüchlich. Einerseits gibt es im Independent-Bereich großen Bedarf nach Filmen mit einer sensiblen Herangehensweise an andere Kulturen. Auf der anderen Seite weist der Mainstream alles, was nicht sofort als Amerikanisch erkennbar ist, zurück.

Der „Mainstream“ möchte unterhalten werden. Dagegen stellen Sie an den Anfang ihres Films über Afrika folgende Aussage: „Nicht deskriptiv, nicht informativ, nicht interessant.“ Damit zitieren sie ein Klischee, das Sie durchbrechen wollen. Aber ist an diesem Klischee nicht auch etwas Wahres?

Natürlich brauchen wir Information. Ich richte mich aber gegen bestimmte Tendenzen des ethnographischen Films: Information um ihrer selbst willen, wenn alles darauf reduziert wird, Dinge zu erklären oder mit einem Sinn zu versehen, wenn Ambiguitäten ausgebügelt werden und eine Kultur in zwei Stunden Film verpackt wird. Wer in ein anderes Land geht, erlebt eine Begegnung. Eine Begegnung zwischen der Kultur und sich selbst. Wenn man sich auf den Inhalt konzentriert, auf die Story – was viele Dokumentaristen tun – geht alles verloren, was zu dieser Story geführt hat. Der Entstehungsprozess, die Struktur, die Art, wie die Information zu einer Geschichte geformt wird. Sich den Problemen zu stellen, heißt aber nicht, selbst außen vor zu bleiben. Die Leute denken oft, ich kritisiere den Westen von einem Standpunkt aus, der außerhalb liegt. Das stimmt nicht, ich bin nicht Ost, nicht Asien. Wenn ich den Westen kritisiere, kritisiere ich mich genauso selbst.

Dieser „Westen“, schreiben Sie, ist stark darauf bedacht, ein „Anderes“ zu konstruieren, um sich selbst zu definieren, der Osten als „Anderes“ des Westens. Denken Sie, dass die Menschen besser daran täten, dieses Denken in Gegensätzen zu überwinden?

Hier geht es um spirituelle Zusammenhänge des Ostens, die schwer in Worte zu fassen sind. Es gibt nicht das eine oder das andere, sondern beides. Wir arbeiten zum Beispiel daran, das „Ich“ sterben zu lassen, um ein umso größeres Verständnis für andere zu erlangen. Das zeigt aber, dass wir die Tendenz haben, das „Selbst“ und das „Andere“ zu trennen. Wir brauchen beides, um zu überleben. Es ist wie das Licht des Tages und das Licht der Nacht. Am Tag sieht man immer verschiedene Farben, und muss sie auseinanderhalten, um sich bewegen zu können. In der Nacht sieht alles auf den ersten Blick gleich aus, das Licht ist einfach anders. Aber von einer solchen Unterscheidung bis zu einer systematischen Unterdrückung des Anderen, wie es der Kolonialismus betrieben hat, ist es ein weiter Weg. Das ist für mich die Herausforderung, es ist eine Frage der Proportion. Etwas, was so notwendig ist, wird zur Ausbeutung missbraucht.

Wir brauchen die Fähigkeit, zwischen einem Löffel und einer Tasse zu unterscheiden, um damit umgehen zu können. Wenn wir aber sagen, der Löffel ist nichts gegenüber der Tasse, ist das eine ganz andere Form der Unterscheidung. Diese feine Linie ist so oft überschritten worden und Zerstörung war die Folge.

Haben Sie denn Hoffnung für die Zukunft?

Natürlich. Ich bin nicht defätistisch oder übersättigt wie beispielsweise Baudrillard und sehe das Ende der Welt herannahen. Meine Vorstellung vom Ende der Welt kommt mehr der eines Afrikaners nahe, der die Sonne untergehen sieht. Er spürt den Moment ganz deutlich als Untergang der Welt. Das hat nichts mit dem Schneeballeffekt des globalen Kapitalismus zu tun, der zur endgültigen Zerstörung der Welt führt. Die Sonne geht jeden Tag unter, und jeden Tag spürt der Mann, was das Leben ihm geschenkt hat. Es ist ein Moment der Hoffnung, nicht der Verzweiflung.

Das Interview fand im Rahmen einer Veranstaltung des Weltenbürger e.V. in Hannover statt.

Zitate:Wenn ich den Westen kritisiere, kritisiere ich mich genauso selbstHeimat, das kann manchmal auch die Farbe des Himmels sein Die Fähigkeit, zwischen einem Löffel und einer Tasse zu unterscheiden