Gegen Plastikwürfeltürmchen treten

„Wenn die Seele wackelt“ – krachen Metallplatten auf den Boden: Ein Tanzstück der Gruppe MS Schrittmacher greift die düstere Orwell-Utopie der geistigen Selbstversklavung in einer zunehmend überwachten Gesellschaft auf

Die Halterung löst sich, und eine von der Bühnendecke herabhängende Metallplatte kracht auf den Boden. Dies ist Absicht, kein Unfall, und es funktioniert – der Zuschauer erschrickt. Was draußen, auf den Baustellen, alltäglich ist, wird im geschützten Bühnenraum nachgestellt. Man simuliert Katastrophe und Systemausfall, möglichst authentisch. Doch Spiel bleibt Spiel, und nichts geht zu Bruch.

Martin Stiefermann erzählt in seinem neuen Tanzstück von geistiger (Selbst-)Versklavung. Ein unsichtbares, autoritäres Zähl- und Messsystem kontrolliert die Menschen, die wie Rädchen im Getriebe nur noch funktionieren. Sie bewegen sich im Labyrinth des Systems, sinnlos und isoliert. Mit steifen, abgehackten Gesten stelzen die vier Tänzer der Gruppe MS Schrittmacher durch den mit verknautschten Plastikwürfeln voll gestellten Bühnenraum, unaufhörlich zählend, neurotisch flatternd. Sie nehmen einander nicht wahr, und folgen, jeder für sich, einer imaginären Spur, die an kein Ziel führt.

In seinem neuen und vorerst letzten Berliner Stück „Wenn die Seele wackelt“ greift Stiefermann, der demnächst als Tanzleiter an das Staatstheater Oldenburg geht, den Orwellschen Gedanken von der total überwachten Gesellschaft auf. Er variiert die düstere Utopie einer gleichgeschalteten Kultur, indem er deren Mechanismen in Bewegungen überführt, die vom zwanghaften Vermessen sprechen. Seine Figuren liefern sich dem freiwillig aus, lassen sich eintakten und gehen mit. Durch die immer gleichen, ritualisierten Handlungen sichern sie ihren Status quo.

Die durchaus interessante Erzählung könnte dichter sein und sich einige choreographische Längen ersparen. Die Wiederholung von Bewegungen, die dramaturgisch nicht unbedingt vorankommen, vermitteln zuweilen einen etwas bemühten Eindruck, ähnlich dem Lehrer in der Schule, der alles doppelt erklärt, obwohl man ihn schon längst verstanden hat.

Als die Kette reißt, geht es endlich los auf der Bühne, die Figuren verjagen Big Brother und flippen aus: Frei nach dem Motto „Macht kaputt, was euch kaputt macht!“ rennen, treten, springen sie gegen die Plastikwürfeltürmchen, dass es eine wahre Freude ist. Nun endlich dürfen die Tänzer, Wobine Bosch, Aleksey Schoettle, Andreas J. Etter und Jorge Morro, ihre Körper im Raum sprechen lassen. Mit kindlicher Zerstörungswut ertanzen sie das Ende der autoritären Ordnung. Doch das völlige Fehlen derselben, die Freiheit im Chaos ängstigt sie.

Nach diversen Solo- und Duetteinlagen, die beinahe ihre Menschwerdung herbeigeführt hätten, kuscheln sie sich erneut in das vertraute Korsett, stellen die Plastikwürfel an ihren Platz zurück. Am Ende räumen die bösen Kinder ihr Zimmer wieder auf, denn draußen ist es kalt und dunkel. JANA SITTNICK

„Wenn die Seele wackelt“. Vom 24. 10. bis 27. 10. und vom 28. 10. bis 31. 10. jeweils ab 20.30 Uhr im Dock 11, Kastanienallee 79, Prenzlauer Berg