Einer muss die Zeit festhalten

Katharina Hackers Erstlingsroman „Der Bademeister“ handelt von der vergeblichen Spurensuche ihres Protagonisten, der im flüchtigen Stoff des Wassers Zeichen der Vergangenheit aufspüren will

von WERNER JUNG

Derjenige, der sein Leben lang versucht hat, die Zeit festzuhalten, ist der von den anderen bloß Hugo genannte Bademeister – der Bademeister des alten Stadtbades, das nun nach hundert Jahren wegen vermeintlicher Baufälligkeit und möglicherweise auch Unrentabilität geschlossen worden ist. Der Bademeister hat hier Jahrzehnte verbracht; als Jugendlicher ist er in frühen DDR-Zeiten hierher gekommen, vierzig Jahre später wird der nun 58-Jährige nach der Wende auf die Straße gesetzt. Still und umsichtig hat er gewirkt, unauffällig dabei seine engen Kreise im Rayon aus Bad, elterlicher Wohnung und dem Eckkiosk ziehend. Freunde hat er keine, seine Bekanntschaften reduzieren sich auf die wenigen Mitarbeiter im Bad; der Vater hat sich erhängt, die Mutter führt daraufhin ein zurückgezogenes Leben.

„Ich bin der Bademeister, ich habe nie viel gesprochen. Das Schwimmbad ist geschlossen. Seit Wochen steht das Gebäude leer.“ Auf diese ersten Sätze folgt eine endlose Selbstansprache, ein Selbstgespräch, das noch über den Text und seinen zufälligen Abbruch hinauszugehen scheint: „Die Zeit vergeht nicht mehr, aber den Verfall hält sie nicht auf. Ich bin hierher zurückgekehrt.“ Der Bademeister hockt nämlich immer noch im Keller der Badeanstalt, in den Kavernen, um sich gegen das Ende, den Abriss und damit das völlige Auslöschen dieses Gebäudes, zu stemmen.

Was den ersten Roman Katharina Hackers, worin inhaltlich wie formal Spuren Thomas Bernhards oder auch Gerhard Köpfs erkennbar sind, so überaus faszinierend macht, das ist seine oszillierende Mehr- und Vieldeutigkeit. Denn in eine durchaus existenzielle Problematik scheint ebenso eine historisch- politische Dimension hinein wie eine darüber hinausgehende grundsätzliche metaphysisch-philosophische. Da ist zum einen der wortkarge und introvertierte Bademeister, dessen höchstes Glück in der mühseligen Bewahrung einer alltäglichen Ordnung besteht; da ist auf der anderen Seite auch noch der dunkle Untergrund einer Historie, die in raunenden Berichten des alten Bademeisters über Naziverbrechen in diesem Stadtbad, in Gerüchten und Andeutungen über Gewaltverbrechen des Vaters, in Ahnungen über angebrachte Abhör- und Überwachungsanlagen immer wieder auftaucht. Beide Ebenen, denke ich, vermitteln sich schließlich in einem das Selbstgespräch des Bademeisters grundierenden Diskurs über die Zeit.

Katharina Hacker hat einen modernen Zeitroman geschrieben, in dem aufdringlich-unaufdringlich verschiedene Aspekte und Facetten einer Philosophie der Zeit zur Sprache kommen – einer Philosophie, die nicht nur – wieder einmal – als Auseinanderbrechen von subjektiver und objektiver Zeit, von Erlebniszeit und historischer Zeit erzählt wird, sondern in einem einzigen Bild, einer großen Metapher verdichtet wird: Die Zeit ist wie das Wasser, flüchtig, unauffällig, glatt und gefährlich! Zeit, so sinniert der Bademeister einmal, „ist stehen geblieben, so wie das Wasser hinterlässt es keine Spuren, nur unsichtbar, versteckt“.

Doch genau um die vergebliche Spurensuche kreisen alle Bemühungen des Bademeisters, darum, im flüchtigen Stoff des Wassers Zeichen der Vergangenheit aufzuspüren und somit Erinnerung herzustellen: „Ich sehe die Schrunden an den Wänden, sehe die Risse in den Farben; sie erinnern mich an die alten Badegäste (. . .).“

Vergegenwärtigt man sich dieses verschwiegene Zentrum des Textes, dann erkennt man auch die Notwendigkeit der vielen Wiederholungen und Redundanzen, das Mäandernde, was dem Roman zugleich eine atmosphärische Dichte verleiht wie wortreich eine Leerstelle umschreibt: die abgebrochene Erinnerung, den Riss in der Geschichte.

Katharina Hacker: „Der Bademeister“.Roman. Frankfurt/M., Suhrkamp, 2000