Geschichtsschnipsel

In Berlin schrieb Margaret Atwood vor Jahren an ihrem „Report der Magd“. Nun machte sie hier Station – und dozierte über die Konstruktion von Sinn

von CHRISTIANE TEWINKEL

Als Margaret Atwood Anfang der Achtziger ihren Roman „Report der Magd“ schrieb, lebte sie auch ein Jahr lang in Berlin. Im Herbst 1989, als die Verfilmung des Romans vorgestellt wurde, kam sie erneut in die Stadt – Volker Schlöndorff hatte ihre Dystopie eines totalitären Staates, in dem die jungen Frauen für eine Kaste älterer, privilegierter Frauen Kinder gebären müssen, in seine „Geschichte der Dienerin“ übersetzt. Ausgerechnet in diesen Tagen fiel die Mauer. „Ich habe gesehen, wie sie auseinandergenommen wurde“, bestätigt Atwood bei einem Gespräch am Rande ihrer aktuellen Lesereise im Berliner Hotel Savoy.

Derzeit ist Atwood, die kanadische Schriftstellerin mit mal mehr, mal weniger offen radikalfeministischen und antiamerikanischen Tendenzen, in Deutschland, um ihr neues Buch „Der blinde Mörder“ vorzustellen. Das DDR-System bot ihr eine der Quellen, aus denen sie für die Konstruktion ihrer „Magd“-Geschichte schöpfte. Dazu kam: Im Rumänien Ceaușescus mussten die Frauen gebären, in China wird das Austragen von Schwangerschaften noch heute staatlich reglementiert.

Die Fruchtbarkeit der Frauen, meint Atwood, mache den Männern Angst; den Konflikt um das Dilemma zwischen Abtreibung und zwangsweise ausgetragener Schwangerschaft vergleicht sie mit den schwierigen Konflikten um den Staat Israel. Als ich nicht sofort verstehe, was sie meint, wird Atwood ungeduldig: Sie nimmt mir Stift und Papier aus der Hand und zeichnet zwei Pfeile, die nach unten zeigen: das totalitäre System, in dem wenige Menschen über alle entscheiden. Daneben zeichnet sie ein Rechteck, das sie fast vollständig schraffiert. Die Demokratie. Ein kleines Feld in diesem Rechteck bleibt übrig: die Frauen zwischen fünfzehn und fünfundvierzig. Auch wenn sie alle zusammenhielten, könnten sie nie mehrheitsfähig sein. Über Geburten entscheiden die anderen. Verstanden?

Atwood ist von fragiler, fast ätherischer Schönheit und störrig kompromisslos. Als Feministin will sie nicht gelten, denn Feminismus bedeute, dass Frauen eine eigene Spezies darstellten. Bezogen auf ihre Bücher hieße es, ihr Werk sei in irgendeiner Weise heutig und modisch. Alles, was sie schreibe, habe es jedoch schon immer gegeben: Der „Report der Magd“ verdanke sich dem alttestamentarischen Motiv der Leihmutterschaft. Heldinnen gebe es schon bei Emily Brontë, und die Geschichte vieler Generationen, die im Zentrum ihres neuen Buches steht, finde sich ähnlich in Galsworthys „Forsythe Saga“. Auch Woolf und Joyce hätten über Zeitungsschnipsel auf Ereignisse geschaut.

In „Der blinde Mörder“, einer im Rückblick erzählten Geschichte zweier Töchter eines Knopffabrikanten, gibt es viele verschiedene Schnipsel. Die Geschichte von Laura und Iris wird von Zeitungsartikeln begleitet, die das vergangene Jahrhundert fast vollständig abdecken. Iris ist alt geworden, Laura hat kurz nach Kriegsende Selbstmord begangen. Iris erinnert sich an früher, und aus Lauras postum erschienenem Roman, in dem sich ein junges Paar trifft, um im Erzählen in das utopische Reich Zycron zu fliehen, wird immer wieder vorgetragen. Mit Iris zeichnet Atwood das Porträt einer alten Frau, die ruhig auf die ersten Dezennien des Jahrhunderts schaut. Für die Gegenwart hat sie wenig mehr übrig als die Gnadenlosigkeit einer, die schon alles erlebt hat. Bald wird sie sterben. „Sterbende haben ein Recht auf gewisse Freiheiten, wie Kinder an ihren Geburtstagen“, sagt Iris.

Drei Jahre lang hat Margaret Atwood an „Der blinde Mörder“ gearbeitet. Eigene Erinnerungen der 61-Jährigen flossen ein, ebenso die Züge real existierender Orte: Die Knopffabrik in Port Ticonderoga etwa setzt sich zusammen aus den Fabriken dreier verschiedener Städte in Kanada.

Von dem historisch gewordenen Ort, den die gealterte Iris besucht, wendet sich unser Gespräch im Hotel Savoy allmählich zu Atwoods Lesereise. Seit August ist sie unterwegs, zuletzt war sie in Großbritannien und Schweden. In Edinburgh hat sie ein zweigeteiltes Denkmal besichtigt, für die in der Schlacht Verwundeten und für jene, die „für ihre Kameraden“ gefallen sind. „Wenn es keinen Sinn gibt“, sagt Atwood, „muss er konstruiert werden. Ohne Sinn können die Menschen nicht sein.“ Später fragt sie nach der deutschen Mahnmal-Debatte. Ein endloses Thema, sage ich. „Würde es nicht helfen, zu wissen“, fragt Atwood, „dass es Genozide fast überall gegeben hat?“ Ihre Hand pendelt über der weißen Tischdecke auf und ab, ab und auf. „Irgendwann haben die Menschen genug von bestimmten Themen. Das war schon immer so.“