Bielefelds „College“ soll Regelschule sein

Nordrhein-Westfalens Musterschule „Oberstufenkolleg“ wird ihrer Reformidee beraubt: Den Übergang von Schule zu Universität zu erleichtern. Statt das uniähnliche Lernen zu stärken, will die Schulministerin die Drähte zur Uni kappen

BIELEFELD taz ■ Kommende Woche hat sich bei Nordrhein-Westfalens Schulministerin Gabriele Behler (SPD) ein alter Bekannter angesagt. Hartmut von Hentig, lange Jahre an der Universität Bielefeld tätig und einer der wichtigsten Pädagogen der Republik, macht seine Aufwartung. Der jüngst 75 Jahre alt gewordene Hentig besucht die Ministerin freilich nicht, um sich Geburtstagswünsche abzuholen. Hentig fürchtet um eines seiner großen Bildungs-Reformprojekte, das Bielefelder Oberstufenkolleg (OS). Unter Behlers Regie soll das Kolleg anders werden. So anders, dass seine Gründungsidee verlorenginge.

Hentig hatte das Kolleg vor 26 Jahren in Anlehnung an amerikanische Colleges als Vorkurs für die Universität gegründet. Das Oberstufenkolleg soll den oft so schwierigen Übergang von Schule zu Hochschule erleichtern. Die Bielefelder Kollegiaten studieren dort vier Jahre lang fast wie an der Uni: Sie wählen ihre Fächer, etwa Jura, Geografie, BWL oder Soziologie. Dafür bekommen sie Scheine statt Zensuren. Ihr Abitur ist mit dem Grundstudium ihrer Wahlfächer verzahnt. OS-Absolventen können daher an der Uni gleich ins höhere Semester einsteigen. Ungewöhnlich sind auch die offenen Aufnahmekriterien für Kollegstudenten: Die Hälfte kommt von Haupt- und Realschulen.

Nun aber steht das bundesweit einzigartige Schulreformprojekt, das zu Forschungszwecken gleichzeitig Teil der Universität Bielefeld ist, vor seiner bisher radikalsten Reform. Das Kolleg-Modell soll es ab 2002 nicht mehr geben. Die Verknüpfung von Lehre und Forschung soll fallen, das Kolleg zu einer besseren Regelschule mutieren. Der konkrete Plan dazu sieht vor, die Schulzeit auf drei Jahre zu verkürzen und das Kolleg weitgehend von der Uni abzunabeln.

Behlers Staatssekretär Wolfgang Meyer-Hesemann sieht in dem geplanten Neuanfang „riesige Chancen“. Vor den Chancen aber hat er viel Kritik anzubringen. „Wir geben das Kollegmodell auf“, kündigte Meyer-Hesemann im Gespräch mit der taz an, „weil es sich nicht bewährt hat.“ Tatsächlich ist die Schulform Kolleg in Deutschland singulär geblieben. Gründervater von Hentig hatte einst die Vision, 200 solcher Einrichtungen im ganzen Land als Sprungbretter in die Unis zu etablieren. Das ist nicht geschehen.

Im Kolleg selbst herrscht, wie könnte es anders sein, helle Aufregung. Schließlich sollen 20 von 94 der Lehrerstellen gestrichen werden. Gleichzeitig soll das Lehrdeputat, also das Unterrichtspensum der Lehrer, von 14 auf 18 Wochenstunden erhöht werden. Meyer-Hesemann versucht zu beruhigen: „Niemand wird entlassen, die Stellen werden sukzessive abgebaut.“

Als Konsequenz aus den Plänen befürchtet der Leiter des Kollegs, Jupp Asdonk, allerdings eine „Deform statt einer Reform“. Er verweist darauf, dass die normalen, die Regelschulen in der Vergangenheit viel von der Experimentierschule gelernt hätten.

Auch an der Uni Bielefeld, die das Kolleg wissenschaftlich begleitet, plädiert man unbedingt für den Erhalt des OS in seinem Grundanliegen: Den Brückenschlag von wissenschaftlich arbeitender Oberstufe zur Uni. Die Verzahnung von Abitur und Grundstudium, postuliert der Erziehungswissenschaftler und OS-Prorektor Dieter Timmermann, müsse intensiviert und nicht gelockert werden. „Auch Forschung und Lehre dürfen nicht zerlegt werden“, meint Timmermann, der zugleich dem Rektorat der Uni Bielefeld angehört.

Einen Reformbedarf für das Oberstufenkolleg räumt Timmermann dennoch ein. Er plädiert für einen stärkeren Austausch des OS mit Gymnasien, um so „enger an die Regelschulen heranzukommen“. Auch Schulleiter Asdonk signalisiert Bereitschaft zur Veränderung. Bereits Anfang des Jahres schickte die Schule einen Eckpunkt-Katalog für eine neue Ausrichtung nach Düsseldorf – ohne Antwort zu erhalten. Jetzt kommt das Ministerium plötzlich mit vorgefertigten Plänen. Die OS-Leitung fürchtet eine Degradierung des Kollegs zur „experimentellen Regelschule“. Wörter wie Reformruine oder Reformtod geistern unter den Kollegiaten.

Den Kommunikationsstil des Ministeriums nennen die diskussionsfreudigen OSler „feudal und von oben herab“. Kollegiaten und Lehrer protestierten erst am Montag, als Schulministerin Behler die Uni Bielefeld besuchte, gegen die Anordnungen. Sie verlangen Mitsprache. Behler aber kann die Aufregung gar nicht verstehen: „Das Oberstufenkolleg bleibt weiterhin eine attraktive Experimentierschule mit großen Freiräumen. Sie wird an Attraktivität nicht verlieren.“ Eine Ansicht, die sich OS-Gründer Hartmut von Hentig von Gaby Behler gewiss genau erklären lassen wird. OSKAR EMM