„Doping ist das System“

Nach Jahren des Leugnens gesteht beim Prozess um die Ereignisse während der Tour de France 1998 auch der französische Radprofi Richard Virenque, dass er Dopingmittel zu sich genommen hat

aus Paris DOROTHEA HAHN

„Oui“, hat Richard Virenque gestern morgen zu seinem Richter gesagt: „Ja, ich habe mich gedopt.“ Für den 30-jährigen Radprofi und langjährigen Publikumsliebling der Tour de France ist es eine Kehrtwende. Noch am Vortag, bei der Eröffnung des großen Doping-Prozesses in Lille, hatte er alles geleugnet. Ganz allein gegen alle hatte er behauptet: „Sollte ich je gedopt worden sein, geschah das ohne mein Mitwissen.“

Neun Personen sitzen bei dem ersten Prozess wegen organisierten Dopings auf der Anklagebank der 7. Strafkammer von Lille. Das Verfahren gegen den zehnten Angeklagten, den früheren Sportarzt des „Festina“-Teams, ist wegen dessen schwerer Krebserkrankung verschoben worden. Vorgeworfen wird den zehn die Beschaffung, der Schmuggel, die Verteilung sowie die Aufforderung und Ermunterung zur Einnahme von Dopingmitteln in den Jahren 1994 bis 1998. Nicht aufgelistet ist deren Konsum, der nicht unter Strafe steht. Den angeklagten Dealern drohen Strafen, die von 100.000 Franc Geldbuße bis zu zwei Jahren Gefängnis reichen.

Virenque ist der einzige Sportler, alle anderen Angeklagten sind Funktionäre: Ein Sportdirektor, zwei Ärzte, drei Pfleger, ein Kommunikationsberater, zwei Apotheker. Gemeinsam sollen sie das „Festina“-Team mit kraftfördernden Spritzen versorgt haben. Teamkapitän Virenque soll sich nicht nur selbst gedopt, sondern auch seine Mitradler zum Doping veranlasst haben.

Aufgeflogen ist die Festina-Doping-Connection wenige Stunden vor Beginn der Tour de France des Jahres 1998. Da verhaftete die französische Polizei den belgischen Masseur und Pfleger des Teams mit einem Auto voller Dopingmittel. Willy Voet war u. a. mit 400 Ampullen des Hormonpräparats Erythropoietin (Epo) unterwegs. Ein Skandal, den die französische Sportministerin Buffet aufgriff, um ein französisches Gesetz und eine europäische Initiative gegen Doping zu lancieren.

Richard Virenque hatte noch am Montag vor dem Gericht in Lille erklärt, als Spitzensportler, der jährlich 45.000 erschöpfende Kilometer auf dem Rad zurücklege, habe er keine Zeit und Energie, seine Betreuer zu überwachen. Er sei „gegen Doping“ und habe Vertrauen in seine Betreuer. Die Spritzen, die sie ihm verabreichten, wollte er als „Vitamine und Kraftstoffe“ verstanden haben. Diese Aussagen standen im Widerspruch zu jenen seiner Betreuer, die inzwischen alle gestanden haben. Willy Voet hat sogar ein Buch über das Doping veröffentlicht, das im Gerichtssaal vielfach zitiert wird. Vor Gericht beschrieb Voet Details aus der Dopingpraxis im Radsport. Als beim Giro d’Italia 1990 jemand den Favoriten Charly Mottet überholt habe, „haben wir uns gefragt, was der nimmt“, erinnert sich Voet.

Als der Belgier, 28 Jahre lang Betreuer in fünf verschiedenen Radsportteams, die Namen der Dopingmittel nennt, die er verabreicht hat, wird der Gerichtssaal zur Apotheke. Unter anderem hantierte er mit Cortikoiden, Epo, Wachstumshormonen und Amphetaminen. Er spritzte auch Virenque, zuerst 1993: „Es war abends. Er lag auf dem Massagetisch. Ich schlug ihm eine Spritze corticos vor.“

Gestern, nachdem Virenque nach jahrelangem Leugnen sein „Oui“ gehaucht hatte und anschließend in Tränen ausgebrochen war, nahm ihn sein Expfleger wie einen heimgekehrten Sohn in die Arme. Wie früher, wenn er Virenque für ein Rennen fit massierte und fit spritzte, spornte er ihn zu weiteren Höchstleistungen an. „Virenque hat nichts Böses getan“, sagte der Ex-Pfleger den Journalisten, „er hat genau so gehandelt wie alle anderen. Dass er jetzt diesen sehr schweren ersten Schritt getan hat, ist sehr gut für den Radsport.“ Der Sportler, dem nach seinem Geständnis zwar keine gerichtliche Strafe, wohl aber eine sechs- bis zwölfmonatige Sperre droht, erklärte dem Gericht: „Doping ist das System. Die einzige Alternative ist auszusteigen. Alles andere ist der Tod.“

Für das Gericht steht die schwerste Arbeit noch bevor. In den nächsten drei Wochen will es den Beweis führen, dass – zumindest im Festina-Team – Sportler, die kein Doping wollten, keine Chance hatten.