Dörflich, deftig

Tief dekolletierte Wurschtigkeit im Bauernbett: Das Theater 89 zeigt Melanie Gieschens Stück „Gnadenlos“ in der Alten Feuerwache der Kulturbrauerei

Über dem Gelände der Kulturbrauerei, wo die Leuchtschriften von Minimal, Leopold’s und Village Cinema einander kollegial zublinzeln, liegt der diskrete Charme properer Ländlichkeit. Das Kopfsteinpflaster glänzt, manche Backsteingebäude heißen wie früher: Alte Feuerwache oder Kesselhaus. Hinter jeder Ecke erwartet man wiehernde Brauereigäule oder dekorative Misthaufen – am besten solche, die nicht stinken.

Dass hier derzeit ein neues Stück Volkstheater gegeben wird, hat allerdings wenig mit dem Ambiente zu tun. Das vor allem durch seine Oliver-Bukowski-Uraufführungen berühmt gewordene Theater 89 mit Doppelsitz in der betriebsamen Torstraße und im brandenburgischen Niedergörsdorf zeigt „Gnadenlos“ von Melanie Gieschen. Die in Hessen aufgewachsene 29-jährige Autorin, die von Oliver Bukowski gefördert an der HdK szenisches Schreiben studierte, konzipiert dörfliche Sozialpsychologie so deftig und dämonisch, dass selbst der sich für extra abgebrüht haltende Großstädter zurückzuckt, wenn sein Weltverständnis plötzlich auf Hessisch ertönt: „Es Leben is kurz un schmerzhaft, da muss mer sehe, wo mer bleibt.“

Vor allem die Ruppels ringen mit diesem Satz, denn sie sind Sündenbockfamilie im Dorf, bitterarm und untereinander spinnefeind. Im Mittelpunkt steht Magda (Marie Gruber), Hure, Bäuerin und Putzfrau, die als Kind vom Vater missbraucht und geschwängert wurde. Unter diesem Unglücksstern kam Karl (Stefan Kowalski) zur Welt, der seine Liebessehnsucht nur abwechselnd mit Alkohol und der Sau Lina zu befriedigen weiß. Indes gibt ihn Magdas Mutter, die bettlägrige, bockige Erna (Simone Frost), als ihren Sohn aus, um die Tochter, mit der sie sich kreischende Wortgefechte und Handgreiflichkeiten liefert, zu entlasten – oder zu erpressen.

Um das Ruppel’sche Elend steht und glotzt der rechtschaffene Rest: Magdas Privatkunden Ernst und Mattes (Johannes Achtelik, Eckhard Becker), das intrigante Teutonengift Gerlinde (Heike Jonca) und der fiese Georg (Bernhard Geffke). Aus Sadismus und frustrierten Führergelüsten heraus lauert er nur darauf, der Ruppel-Familie den endgültigen, demütigenden Tritt zu verpassen.

Hans-Joachim Frank inszeniert das geschickt aufgebaute Ausgrenzungsdrama in kurzen, sich in Intensität, Pathos und komischer Wurschtigkeit steigernden Szenen, immer auf der Grenze zwischen Farce und Tragödie. Bleibt die verschachtelte Holzbühne mit Bauernbett und Einmachgläsern noch ein Bekenntnis zum Volkstheater, ironisieren es die schrillen Tonaufnahmen von Schweinegrunzen und quietschenden Bettfedern schon wieder, mischen sich hessische Laute mit dekolletierter Trachtenmode zu Geierwally’scher Hysterie. Es sind die Darsteller, die schließlich dem Ernst den Ausschlag geben, die – ohne darin penetrant zu werden – mit Hingabe und Passion ihren Figuren Gesichter des Schmerzes, der Stumpfheit und des Hasses verleihen. Vor allem Simone Frosts stieren Blick, die tief in die kinnabwärts weisenden Mundwinkel eingefurchte Überzeugung „Gerechtigkeit? Die ist nur für die anderen da“ wird man nicht so schnell vergessen können.

EVA BEHRENDT

Heute bis 29. Oktober, weitere Aufführungen 2. – 5. November, jeweils 19 Uhr, Alte Feuerwache, Kulturbrauerei, Knaackstraße 97