Europa sie nix lieben

Die Werke von in Deutschland lebenden Autorinnen fremder Herkunft sind keineswegs nur das Produkt einer „anderen“, womöglich archaischen Kultur. Endlich beginnt sich auch die Literaturwissenschaft für die neue, Ethnien und Rassen übergreifende Literatur zu interessieren

von FAHIMEH FARSAIE

Wenn sich WissenschaftlerInnen mit der Rolle der ethnisch-kulturellen Minderheiten in der deutschen Gesellschaft auseinandersetzen, steht am Beginn zumeist die Beschäftigug mit dem Thema der Identität. So auch im soeben erschienenen Essayband „AufBrüche“, in dessen Einleitungskapitel die Literaturwissenschaftlerin Peggy Piesche die Ursprünge der Identität seit dem 18. Jahrhundert untersucht und zu dem Resultat kommt: „Die Identität ist immer eine aktive Konstruktion, die niemals vollständig und auf Dauer fixiert ist.“ Zugegeben: keine wirklich neue Erkenntnis. Neu indes ist das Thema des Essaybands: „Kulturelle Produktionen von Migrantinnen, schwarzen und jüdischen Frauen in Deutschland“. Dass diese „kulturellen Produktionen“ von der Wissenschaft bisher kaum wahrgenommen wurden, lässt sich ebensowenig bestreiten wie die Tatsache, dass sich die deutsche Literatur durch die Präsenz von bikulturellen AutorInnen geändert hat.

Ausgangspunkt war die Tagung „Marginale Brüche“, die im November 1997 in Köln stattfand. Einerseits ist das nun vorliegende Buch mehr als ein Tagungsband, denn unter seinen vierzehn Beiträgen befinden sich einige, die damals gar nicht vorgetragen wurden – und es ist weniger, weil die Herausgeberinnen auf den Abdruck des umstrittenen Vortrags einer deutschen Wissenschaftlerin über die afrodeutsche Lyrikerin May Ayim verzichtet haben. „Es war für viele der anwesenden Frauen ein Affront, dass es überhaupt jemand (und dazu eine weiße Person) wagen konnte, schon jetzt eine solche Forschungsarbeit zu schreiben.“ Kein wirklich plausibles Argument.

Die meisten Beiträge stützen sich auf die These, dass der Begriff einer „anderen Kultur“ im deutschen Literaturbetrieb immer noch nach bürgerlich-mitteleuropäischen Normen bemessen wird. Diese fördern eine hierarchisierende Gegensatzstellung etwa von Orient und Okzident. Nach der Analyse von Edward Said wird die westeuropäische Kultur zum Zivilisierten und das ethnische Andere zum Rückständigen erklärt. So wird der Roman von Emine Özdamar „Das Leben ist eine Karawanserei hat zwei Türen aus einer kam ich rein aus der anderen ging ich raus“ bezeichnet als eine „grammatiklose Flut orientalischer Bilder, getragen von einem Erzähl-Ich, das noch auf beinah archaisch-plastische Weise in der Welt ist“.

Für Hito Steyerl markiert das Stereotyp der „anderen Kultur“ aber nicht nur ihre Rückständigkeit oder Mangelhaftigkeit, sondern auch den Besitz eines beneideten „Ursprünglichen“. Die „anderen Kulturschaffenden“ sehen sich insofern mit der Anforderung konfrontiert, sie sollten sich ausschließlich mit ihrer „eigenen“, „originellen“ Kultur identifizieren und beschäftigen. Auf der anderen Seite wird ihnen die „Ursprünglichkeit“ mit Hinweis auf ihre vielfältige Identität abgesprochen. Steyerls Fazit: „Der Zwiespalt zwischen ‚original‘ und ‚ursprungs- und wurzellos‘ wird oftmals dazu verwendet, die Kulturfähigkeit der Minoritäten einerseits in Zweifel zu ziehen, andererseits aber auch zu fetischisieren.“ Die Arbeit der „anderen Kulturschaffenden“ wird entsprechend als besonders „organisch“ und gleichzeitig als „entfremdet“ bewertet.

Claudia Breger geht der Frage nach, inwieweit die Texte der türkischen Schriftstellerin Emine Özdamar und der japanischen Autorin Yoko Tawada („Talisman“) selbst die Deutungen herausfordern, die ihnen zugeteilt werden. Bereits die Titel ihrer Texte verweisen auf nomadische Existenzweisen oder magische Praktiken und bestimmen somit auch über die Richtung der Auswertung. Breger schlägt vor, die Auseinandersetzung der Autorinnen mit den „Orientalismen als Mimikry zu lesen. Das heißt als eine Form der Nachahmung, für die Differenz zentral ist und die daher als Kritik funktionieren kann.“ So lässt Emine Özdamar die Hauptfigur ihres „Karawanserei“-Romans nicht als Türkin reden, sondern als eine Figur, die als Ausländerin auftritt. Nicht nur die Figuren, sogar das Lexikon spricht in diesem Roman Gastarbeiterdeutsch: „In Europa trägt man kein Kopftuch, wenn Türkischfrau Kopftuch trägt, Europa sie nix lieben.“

Die Postdoktorandin Kader Konuk analysiert in ihrem Beitrag die sprachlichen Aspekte dieses Themas. Die Grundlage ist der zweite Roman von Emine Özdamar, „Die Brücke vom Goldenen Horn“. Sie geht dabei der Frage nach, warum die Werke der Schriftstellerin meist als direkter Ausdruck einer authentischen kulturellen Identität gelesen werden, obwohl die Romanautorin selbst „die Sprache als Ausdruck kultureller Identität inszeniert und Fehler als Kunstform verwendet“. Fehler sind für die Schriftstellerin Özdamar unvermeidbar und legitim. Sie bilden eine neue Sprache, die von etwa fünf Millionen Gastarbeitern gesprochen wird. Özdamar selbst hat erläutert, „dass die Fehler, die wir in dieser Sprache machen, in der deutschen Sprache, unsere Identität sind. Ich habe deswegen Fehler auch als Kunstform benutzt und damit gespielt.“ Kader Konuk kommt zu dem Ergebnis, „dass die Autorin in ihrer literarischen Rede das Scheitern bei der Nachahmung des Originals inszeniert und gleichzeitig das Original durch die Poetisierung desselben zu überholen versucht.“ Es wird spannend sein, die weiteren Entwicklungen dieser Literatur und ihrer Erforschung im Auge zu behalten.

Auch die Literatur schwarzer deutscher Autorinnen hat in den Neunzigerjahren Neuland betreten. In den Texten der ersten Autorinnengeneration war der Identiätsbegriff, so Peggy Piesche, stark von der Erfahrung des „Andersseins“ beeinflusst. Die Identität der Autorinnen wurde in dieser Phase fast vollständig als von der Außenwelt bestimmt wahrgenommen, dem Ich wurde seine Wertbestimmung nur über Abgrenzungen zugeschrieben: nichtweiß, nichtdeutsch. In der zweiten Phase wird dieser Verarbeitungsprozess der Identität anders bewältigt. In ihren neueren künstlerischen Texten gehen die schwarzen deutschen Autorinnen einen Schritt weiter und erkennen dem Subjekt eine ganz alltägliche Normalität zu. Sie sind selbstbewusster und selbstversicherter. „May Ayims ‚grenzenlos und unverschämt‘ “‚, so Piesche, „wurde zum Programm für die neue Generation schwarzer deutscher Autorinnen.“

Das Identitätsbild in den literarischen Texten der jüdischen Autorinnen ist komplexer. Nach den Recherchen von Cathy S. Gelbin ist die jüngere jüdische Generation weiterhin mit ihrer Opferidentität beschäftigt und in ihrer Identität durch den Holocaust geprägt. Nach Gelbins Beobachtungen müssen sich die jüdischen Autorinnen aktuell mit dem Sensationalismus abfinden, der das Auftreten einer neuen jüdischen Generation in Deutschland begleitet hat. Einerseits können sie sich auf das öffentliche Bewusstsein einer jahrhundertealten deutsch-jüdischen Kultur beziehen, andererseits geschieht dies unter der schwierigen Bedingung, dass unter der Last des Holocaust eine unmittelbare Verbindung zur älteren Tradition unmöglich ist. „Gerade Autorinnen und Autoren wie Seligmann oder Dische ironisieren unter anderem durch ihre Wahl ‚trivialer‘ Sujets und Schreibweisen das idealisierte Bild einer deutsch-jüdischen Hochkultur, während eine Autorin wie Esther Dischereit in ihrem Roman ‚Joeemis Tisch‘ die durch die Schoah entstandenen Brüche durch ihren fragmentierten Erzähl- und Handlungsstil auch mit hohem literarischem Anspruch nachvollzieht.“

Beide Schreibstrategien, so Gelbin, verweisen auf den unmöglichen Versuch der nahtlosen Rekonstruktion einer jüdischen Identität und Kultur als eine der Hauptbedingungen für die ersten beiden jüdischen Nachkriegsgenerationen in Deutschland. „Vielen fällt es nach wie vor schwer, sich in diesem Land ganz zu Hause zu fühlen.“

FAHIMEH FARSAIE, 1952 in Teheran geboren, lebt als freie Autorin in Köln. Gestern begann in Moritzburg bei Halle eine dreitägige Konferenz unter entgegengesetztem Vorzeichen: „Bildende Künstlerinnen und Kunsthistorikerinnen im Exil“. „der die das“ wird berichten